Einfach, aber bitte nicht einfältig

 

Oben: Zeichnungen von Pablo Picasso Unten: Logomarks von Colin Snyder

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Unten: Logomarks von Colin Snyder

 

Vereinfachen gilt vielerorts noch immer als adäquate Vorgehensweise, wenn etwas nicht auf Anhieb selbsterklärend ausschaut. Wir leben geradezu im Zeitalter einfacher Erklärungsmuster und mutiger Verallgemeinerungen. Das war im Zeitalter relativer Stabilität und Übersichtlichkeit eine noch halbwegs brauchbare Heuristik („Faustformel“) zur Entscheidungs- und Bedeutungsfindung. Unter den dynamischen Bedingungen einer VUCA-Welt (VUCA steht für volatil, uncertain, complex, ambigious), in der wir heute leben, führt sie zwangsläufig zu nicht sachgerechten oder katastrophal falschen Entscheidungen. Entscheidungen und Handlungen mit guten Erfolgsaussichten basieren unter komplexen Bedingungen auf zwei Faktoren: profundem theoretischem Wissen und viel experimenteller Praxis. Beide gehören zusammen und sind keineswegs ein Gegensatz, wie oft unterstellt wird.

„Etwas vereinfachen ohne es verstanden zu haben ist einfältig; etwas vereinfachen, was man genau versteht ist einfach“ (Simplicity before understanding is simplistic; simplicity after understanding is simple) hat de Bono es treffend ausgedrückt. Vereinfachen hat etwas mit genauem Verstehen zu tun, andernfalls ist es sinn- und wertlos. Auch wenn die Absichten der Vereinfacher noch so gut gemeint sein mögen. Gut gemeint ist eben nicht wirklich gut.

Wir sehen täglich wohin das führen kann. Die industrialisierte Landwirtschaft mit dem Oberziel „Produktivität“ führt beispielsweise zu einer radikalen Reduktion der Artenvielfalt in der Natur. Die Landwirtschaft galt lange Zeit als Garant für die Arten- und Biotopvielfalt in der offenen Kulturlandschaft. Mit der Intensivierung im Pflanzenbau und der Industrialisierung in der Tierhaltung zählt sie heute zu den treibenden Kräften für den Verlust an biologischer Vielfalt. Der hohe Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln verschärft die Situation, denn eingetragen in natürliche Ökosysteme verdrängen sie die natürliche, standortangepasste Vegetation. Je intensiver landwirtschaftliche Böden bewirtschaftet werden, desto geringer sind Artenzahl und Vorkommen der Bodenorganismen. Erhöhter Aufwand zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit ist nötig, wenn man auf diese ökologischen Leistungen der Natur verzichtet (siehe hierzu z. B. das Umweltbundesamt). Oder das Beispiel der Überfischung unserer Ozeane, mit denen wir auf dem Altar der Versorgung mit „billigem Fisch“ eine beispiellose Ressourcenvernichtung unserer Lebensgrundlagen betreiben (siehe Economist). Beispiele lassen sich fast beliebig fortsetzen.

Wo wir natürliche komplexe Systeme mit vereinfachenden einseitigen Denkweisen und Handlungen überziehen, können wir uns oft über kurzfristige Effizienzeffekte  freuen. Den Preis langfristiger Schädigung und des Verlustes an Resilienz (Widerstandsfähigkeit) übersehen wir. Je weniger Vielfalt, desto weniger Nachhaltigkeit, um so störungsanfälliger ist ein System.

Was für einfältiges Vereinfachen in Natur und Landwirtschaft gilt trifft gleichermaßen auf soziale Systeme zu. Die Monokultur vieler Unternehmen macht sie immer effizienter in dem, was sie schon immer tun. Es macht sie gleichzeitig aber anfälliger für dynamische Überraschungen. So lange alles beim Alten bleibt, sind standardisierte, einfache Systeme sehr effizient. Diese Stärke wird allerdings zur Falle, sobald Rahmenbedingungen sich ändern. Je rigider das System, desto geringer seine Fähigkeit zur Veränderung! Und es gibt noch eine Parallele zu einfältig simplifizierten natürlichen Umgebungen: die Abhängigkeit von externen stimulierenden Mitteln. Hier wird Wachstum nur durch gesteigert übertriebenen Einsatz von Düngemitteln erreicht, dort durch Incentives. Beide versagen auf die Dauer und führen in Sackgassen für Scheingläubige.

Von Esko Kilpi stammt eine wunderbare Metapher über die heutige Bedeutung von situativem Können und kontextabhängiger Kompetenz. Nachhaltige menschliche Arbeit (übrigens ebenso wie nachhaltige Landwirtschaft) wird immer nur in einem einzigartigen Kontext von Zeit und Raum betrieben. Arbeit und Zusammenarbeit sind weniger geprägt von allgemeinem Wissen und einzelnen Persönlichkeiten, sondern mehr durch das kontextabhängige Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Er führt das Beispiel eines Hochseekapitäns an, der mit seinem allgemeinen Wissen auf See in ähnlichen und wiederkehrenden Situationen sein Schiff im Griff hat. Um in einen Hafen zu gelangen benötigt er jedoch immer einen Lotsen, der mit lokalen Strömungen, Untiefen und Winden vertraut ist. Ähnlich wird von der Pilotenausbildung berichtet, dass Newbies ein Großraumflugzeug nach wenigen Stunden Ausbildung recht sicher fliegen können. Aber eben nur unter stabilen Normalbedingungen. Was sehr lange braucht ist die Fähigkeit mit nicht alltäglichen oder krisenhaften Ereignissen umzugehen. Dazu bedarf es einer guten Grundausbildung und vielen Jahren praktischer Erfahrung. Der Arbeitsprozess des Kapitäns hat das Potential, durch intelligente Technik ersetzt werden zu können. Das Können des Lotsens wird in seinem Kontext einzigartig bleiben.

Was sagt uns das? Was natürliche und menschliches Systeme brauchen sind nicht einfältig vereinfachende Erklärungsmuster, die in dynamischen und komplexen Umfeldern nicht stimmen können. Es braucht die experimentelle Praxis und die Bereitschaft schnell zu lernen, damit Irrwege schnell erkannt und verlassen werden, Chancen schnell erkannt und genutzt werden können. Sicher können wir uns allerdings nie sein. Das wäre einfältig.

 

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