Braucht die neue Arbeitswelt Gewerkschaften?

Da versucht ein Unternehmen Arbeitszeiten zu flexibilisieren und schafft in einem zweiten Schritt die Zeiterfassung völlig ab. Sie taugt im Zeitalter vernetzter Wissensarbeit als Messgröße für Arbeitsleistung längst nicht mehr.  Die Absicht: wir wollen hier nicht mehr den Anschein von Zeitkontrolle erwecken, wir sind überzeugt von der Eigenverantwortung und der Vertrauenswürdigkeit unserer Mitarbeiter. Ein Signal voller guter Absichten (ich kenne den Entscheider persönlich), das positiv aufgenommen wird. Um so größer die Überraschung, dass sich Betriebsrat und Gewerkschaften vehement dagegen stellen und die Wiedereinführung der Zeiterfassung fordern. Zurück zur Kontrolle!

Welt verkehrt?!?

Das Argument: Zeiterfassung dient dem Schutz der Mitarbeiter vor Überarbeitung und Burnout. Wir wollen wissen, wie lange gearbeitet wird um zu viele freiwillige Überstunden, Emails von zu Hause und ungezügeltem Aufgabenerledigungsdruck etwas entgegen zu setzen. Arbeitnehmervertreter fordern Arbeitszeitkontrolle! Vor nicht langer Zeit hätte dieses Heiterkeit und Überraschung ausgelöst. Heute weiß ich: kein Einzelfall, das Muster greift.

Natürlich ist Zeiterfassung im post-industriellen Zeitalter weder zur Leistungskontrolle noch zur Burnoutprävention geeignet. Viel mehr denke ich nach über ein neues Rollenverständnis der Gewerkschaften. Die Industrialisierung brauchte sie. In der Ära des „schneller und billiger“ und vor der Globalisierung der Welt hatten sie eine wichtige Schutzfunktion: eine Lohnspirale nach unten verhindern und Arbeitsumfelder menschenwürdig gestalten.

Doch wie ist das, wenn Arbeit immer mehr eine Sache von hochspezialisierten Könnern ist? Wenn nicht mehr leicht erlernbare und austauschbare Tätigkeiten im Zentrum der Arbeit stehen sondern fast jeder hochqualifizierte Spitzenleistung in seinem Job erbringt? Was ist mit kreativen Tätigkeiten? Arbeit und Leben sind für die meisten nicht mehr zu trennen, seitdem Handarbeit zur Ausnahme und Kopfarbeit zur Regel geworden ist. Die Suche nach neuen Rollenbildern und Aufgaben für die Akteure der Arbeitswelt darf auch an den Gewerkschaften nicht vorübergehen.

Seth Godin hat in seinem Blog http://sethgodin.typepad.com/seths_blog/2015/03/labor-unions-in-a-post-industrial-age.html Vorschläge zu einem neuen gewerkschaftlichen Rollen- und Aufgabenverständnis gemacht, die mich zu diesem Beitrag inspiriert haben.

Wie wäre es, wenn Gewerkschaften sich stärker für eine neue Führungskultur in Unternehmen einsetzen würden? Was wäre, wenn sie sich in Aufsichtsräten mehr für innovative Freiräume stark machen, für die Übernahme von Risiken und Verantwortung, neuer Produkte und Dienstleistungen? Wie wäre es, wenn über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg ganzheitliche kundenorientierte Sichtweisen Einzug in langweilige Abgrenzungszirkel halten würden? Wie wäre es mit Aktivitäten rund um das Weltklima, wo doch hier die Politik versagt versagt. Es gibt genügend schlechte Produkte und Dienstleistungen, unter denen mangels Wettbewerb und Innovation fast alle Konsumenten gleichermaßen leiden. Könnte sich nicht auch eine Gewerkschaft nachdrücklich für flächendeckendes schnelles Internet einsetzen, dessen Fehlen für Unternehmen und Menschen mancherorts zu einem Negativfaktor geworden ist. Schnellere Roboter, um mehr Zeit und Geld in gute Aus- und Weiterbildung investieren zu können.

Wir erleben einen deutlich spürbaren Wandel in Leben, Wirtschaft und Kultur. Viele Unternehmen befinden sich noch im Dornröschenschlaf und verschenken Potentiale zur Innovation und Verbesserung durch zu langes klammern an alten Rollen- und Arbeitsbildern. So auch die Gewerkschaften. Mag sein, dass einige der genannten Vorschläge unsinnig oder sich als nicht machbar erweisen. Aber probieren müssen auch die Gewerkschaften, um neue Aufgaben und eine neue Rolle zu besetzen. Sicher ist nur: Die alte wird es nicht sein.

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Ardalan
9 Jahre zuvor

Ich hoffe SEHR, dass wir entschlossen auf eine Arbeitswelt zusteuern, in der ein Fehlen von sowohl Gewerkschaften als auch Betriebsräten von NIEMANDEM als Verlust erlebt wird. – Denn das würde heißen, dass wir die Gräben zwischen „Management“ einerseits und „Belegschaft“ endgültig und nachhaltig zugeschüttet haben. Wohlgemerkt: Kein Argument für „Aktive Betriebsratsbildungsverhinderung“ à la Schlecker (R. not I. P.)! Sondern ein Schluss aus der Beobachtung, dass sich Betriebsräte immer dann gründen in neuen Unternehmen, wenn lange, lange versucht wurde, bestimmte Probleme zu addressieren, der Eindruck entstand, dass da nichts ankommt und nichts passiert. Und wenn es dann gar nicht mehr anders… Weiterlesen »

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[…] Artikel veröffentlicht von Martin Lennartz auf seinem Blog /* […]

Martin Bartonitz
9 Jahre zuvor

Gute Fragen!

Ich habe einen Teil Deines Texts auch auf dem Blog der Initiative Wirtschaftsdemokratie mit Referenz hier her veröffenticht. Ist das so Ok für Dich?

Viele Grüße
Martin

p.s.: Seit unserem Treffen ist Deine Vorhersage zum BVB gut eingetroffen. Wünsche Ihnen, dass es so bleibt, auch wenn das bedeutet, dass ein anderer Verein in diesem Konkurrieren den Abgang machen muss und viele andere Fans traurig sein werden …

Ralf Metz
9 Jahre zuvor

Spannende Frage – bereits in einem anderen Kontext (siehe hier: http://blog.bernd-slaghuis.de/augenhoehe-film/) ist diese Frage hochgekommen. Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich Gewerkschaften & Betriebsräte immer als eine Frontlinie der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber wahrgenommen. Zusätzlich sind dort eigene Interessen, Machgelüste etc. in’s Spiel gekommen, so dass ich von einigen Beispielen weiss, bei denen der Arbeitnehmer zum Pokereinsatz wurde. Wenn es also nun keine ‚Frontlinie‘ gibt, d.h. der Arbeitgeber geht ebenso auf seine Angestellten mit ein – wofür würden dann noch die AN-Vertreter gebraucht? Im Übrigen gab es hier schon andere Beispiele dazu. SAP hatte bis 2006 keinen offiziellen BR bis… Weiterlesen »

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