Hommage an die Heimatstadt

Der schönste Pütt der Welt - Consol, Schacht Oberschuir in Gelsenkirchen

Der schönste Pütt der Welt – Consol, Schacht Oberschuir in Gelsenkirchen

Ich komme aus Gelsenkirchen, aussem Pott, wie man bei uns zu sagen pflegt. Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen, seit 45 Jahren ist allerdings Gelsenkirchen nicht mehr mein Wohnort. Meine Heimatstadt ist es geblieben, dort sind meine Wurzeln, heute noch. Mit keinem anderen Ort verbinden mich ähnlich viele Erinnerungen und Emotionen.

Was man uns Ruhris oder Püttologen zuspricht ist selten positiv: eher ungebildet, keine Manieren, Geschmack schon gar nicht, Barock auf Gelsenkirchener Art. Und dann gibt es sogenannte Comedy-Gestalten, die in Ballonseide-Jogginghose weitere Vorurteile zementieren. Okay, die Selbstzuschreibung der Leute aussem Pott hat noch Luft nach oben. Wo Bayern, Friesen und Schwaben sich über Berge, Seen, Traditionen, Meere, Dialekte und Bräuche definieren sagen wir: „Woandas is auch Scheiße.“ Das stimmt zwar, ist aber nicht alles. Wir schimpfen unseren besten Kumpel, den wir wirklich vermisst haben, gern zärtlich „alten Sausack“. Der versteht das, wie gemeint, als Kompliment. Sensibel sind wir, mehr als man denkt. Es gibt eine Pott-Saudade, auch wenn unser Fado kurz und deftig ausfällt. Wenn dat abba einmal am Laufen fängt mit die Wehmut, dann höat dat nich mea auf.

Markus Lüppertz: Herkules in Gelsenkirchen by @antje

Der Herkules von Markus Lüppertz on top der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen. Foto by @Antje, danke!!!!!!!

Ein kurzer Einschub, warum ich hier über meine Heimat, meine Wurzeln, mein Gelsenkirchen schreibe: das ist einmal eine Hommage, eine Liebeserklärung. Ein persönliches Geschenk hat mich diese Liebe mal wieder spüren lassen. Es kommt regelmäßig vor, dass Kunden fragen, ob ich denn trotz meines „intelligenten Niveaus“ (danke!) und meiner „konstruktiv irritierenden Blogbeiträge mit Pfiff und Niveau“ (nochmal danke!) auch mit „normalen“ Werkern umgehen könne. Ich habe freundlich gelächelt und ihm über meine Wurzeln erzählt.

Den Pott hab ich überall in die Welt mitgenommen. Die raue Heimat hat mir ein paar Fähigkeiten mitgegeben, die offensichtlich Bedeutung haben. Ich gehöre zu einem Völkchen mit eigener Sprache, spezifischen Bräuchen, eigener Denkweise. Wir sind ein seltsam unpatriotischer, flachwurzelnder, weltoffener, lauter, mal komplexbeladener, mal großspuriger Haufen. Wir haben einen nach unten orientierten, bodenständigen, nicht zur Arroganz neigenden, pragmatischen, mitunter sogar nervtötenden fatalistischen Schlag mit einem selbstironischen, gern auch schmutzigen Humor. Am Liebsten lachen wir über uns selbst und die Klischees, die man uns nachsagt: primitiv zu sein, ungehobelt, prollig. All das sind wir längst nicht mehr, das ist nicht immer echt, es ist unsere spezielle Form des Understatements. Man ist nicht echt aussem Pott, wenn man das nicht kann. Wir können lernen und uns promovieren lassen, Titel ernten und erfolgreich werden. Wir wissen aber, dass wir uns eine Fähigkeit erhalten müssen, wenn wir zuhause inner Kneipe „nich auffe Ömme“ kriegen wollen: sich im richtigen Moment auch intellektuell fallen und den „Proll“ (hier: Adelstitel) raushängen lassen. Das erdet sehr effektiv.

Direkt, herzlich, auf dem Boden, sind wir. Wir tragen das Herz auf der Zunge. Unsere Sicht der Dinge haun wir einfach raus: „Wennze nich willz, kannze ja gehn.“ Ein bisschen raue Schale, darunter butterweich, so wie Schimanski: immer schnell dabei, wenn´s um klare Worte geht; und der Erste, der seine olle Jacke zum Wärmen weiter gibt. Eine Region im ständigen Wandel. Was sich dabei entwickelt ist ein Gefühl für das „Wir“. Zechen, Industriekultur, Bergbau, Stahlindustrie mit Rost und Grün und Halden mit Buschwindröschen hat keine andere Region.
Hummersüppchen gibt es überall, das Bütterken und „Currywurst Pommes Schranke“ schmecken nur hier. Das macht den Unterschied, das macht uns besonders. Moderne Architektur, Kunst im Raum, Kultur, Abenteuerzoos, Museen sind sicher speziell, jedes Objekt für sich. Aber das gibt es in vielen großen, kleinen Städten und Regionen.

Pott ist Vielfalt: Das Nebeneinander von Dreck und rausgeputzt. Von alt und neu, abgerockt und aufgerüscht. Und nicht zuletzt von Industrie und Grün. Alte Industriegebäude werden „umgenutzt“ und behalten ihren Charme. Hier ist es unterschiedlich, bunt, hier gibt es Ecken und Kanten, hier ist es wild, laut, dreckig und anmutig, grün, sanft, leise und sehr fortschrittlich. Ganz egal, dass die Zechen abgeteuft sind und Industrien sich wandeln. Zusammengehörigkeit entsteht durch Menschen! Die sind im Pott so unterschiedlich wie die Region, aber eben verbunden durch diese einzigartige Kulturlandschaft, die ihre Zusammengehörigkeit prägt.
Selbst die großen Dinge des Lebens wie der Strukturwandel, neue Sichtweisen und der Zug der Zeit werden von den Menschen hier locker gesehen und mit dem legendären Satz gekontert, der den Menschenschlag hier zutreffend aus der Seele sprechen lässt: “Ach wissense, dat is alles halb so wild. Die werden hier integriert und feddich.” Wissterbescheid!

Arbeit prägt Menschen und Regionen. Heute reden wir von „New Work“ und allerlei schönen Begrifflichkeiten, die mich als „Pottblag“ zu einer klaren Meinung herausfordern. Erstens Leute kommt die Arbeit, dann kann man sich um Schönheitspreise kümmern. Siehe das kleine Video und den Beitrag dazu hier.

Veränderungen in dynamischer Umgebung sind heute mein Arbeitsthema. Kein Wunder, es gibt keinen Platz, wo die Idee von Veränderung der Arbeitswelt besser hinpasst. Der Pott ist ständige Veränderung, sie ist erlebbar, jeder kann sie sehen und anfassen. Zechen, abgerockte Bauwerke, Rost, Verfall. Grubenlampen, Zechenhäuser, Bergmannshemden, Haldenromatik sind zwar altes „Zeuchs“. Aber sie stehen für eine Lebenswirklichkeit, die Identität und Identifikation schafft. Das Kommen und Gehen von Industrien, die Integration von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die Solidarität des Miteinanders haben die Menschen hier hautnah erlebt. Unter Tage hilft nur Zusammenstehen, das prägt die Menschen im Pott und die dort Aufgewachsenen noch heute, obwohl der Bergbau längst verschwunden ist.

Wenn von Gelsenkirchen die Rede ist, darf Schalke nicht unerwähnt bleiben. Wohl nirgendwo bedeutet ein Fußballverein für eine Stadt und für ihre Menschen so viel wie dort. Schalke, pro forma ein kleiner Ortsteil von Gelsenkirchen, de facto ein Name von Weltruf, Heimat und Namensgeber des „GEilsten Fußballclubs der Welt“. Schalke ist die Geschichte des Underdogs aus dem Malochermilieu mit kollektivem Minderwertigkeitskomplex, der sich nichtsdestotrotz immer aufs Neue aufmacht, eine maßgebliche Rolle im deutschen Fußball zu spielen. Schalke, das ist Drama, Komödie, Tragödie, ist Glaube, Liebe, Hoffnung. Mal oben, mal unten, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Schalke ist wie Familie: man lacht zusammen, man teilt die Momente der Trauer. Man geht durch dick und dünn, spricht sich Mut zu, regt sich auf, schimpft, träumt, lobt, leidet, dankt. Ob es dir gefällt oder nicht, als Gelsenkirchener hast Du keine Wahl. Schließlich kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Schalker kann man nicht werden, Schalker ist man.

Zum Trost für andere große und kleine Vereine aus dem Pott: Im Zweifel halten wir zusammen. Ich habe viele gute Freude in Lüdenscheid Nord, wie wir gerne den Rivalen aus Dortmund nennen. Die uns umgekehrt liebevoll „Herne West“. Auf dem Platz mag uns sportlich vieles trennen, aber im Leben eint uns das Lebensgefühl „Pott“.

Das muss an dieser Stelle einfach alles mal gesagt werden. Vielleicht hilft das ja, eine liebenswerte Region und mich ein wenig besser zu verstehen.

Glück auf!