Ich bin schockiert. Die Bilder von gestern: Wir gedenken der Toten und der Verbrechen von Auschwitz, geloben den Überlebenden der Nazi-Vernichtungslager „nie zu vergessen“. Anschließend paktieren Teile unserer Abgeordneten ohne zwingende Not, getrieben von politischen Machtinteressen mit den politischen Nachfahren der Verbrecher von damals zu einem umstrittenen und wichtigen Thema in unserer Gesellschaft. Ich bin kein Politiker und dies ist kein politischer Blog. Doch dazu darf und will ich nicht schweigen.
Friedrich Merz irrt. Doch er irrt nicht allein. Der fundamentale Trugschluss vieler konservativer Politiker liegt in der Annahme, dass sich die Auseinandersetzung mit der AfD auf inhaltliche Kontroversen beschränke. Tatsächlich geht es um weit mehr: Die Wähler dieser Partei stellen das politische System der Bundesrepublik selbst infrage.
Ein Blick auf Ostdeutschland verdeutlicht dies. Hier wählen überdurchschnittlich viele Menschen die AfD – nicht zufällig. Die Gründe dafür könnten gegensätzlicher nicht sein: Einige empfinden den heutigen Staat als übergriffig, sehnen sich nach mehr Marktwirtschaft und individueller Freiheit. Andere wiederum verklären die DDR und wünschen sich die vermeintliche Sicherheit und Ordnung zurück. Was beide Gruppen eint, ist ein radikales „Alles-oder-Nichts“-Denken. Sie lehnen nicht nur die Regierung, sondern das gesamte politische System ab – ohne jedoch eine tragfähige Alternative zu formulieren.
Und was tut Merz? Statt klaren Kurs zu halten, öffnet er der AfD ungewollt die Tür, indem er Migration zur Wahlkampfsäule macht. Nun bedauert er öffentlich, dass die Union gemeinsam mit der AfD gestimmt hat – während er im gleichen Atemzug SPD und Grüne auffordert, „zur Vernunft zu kommen“. Verantwortung für sein eigenes Handeln? Fehlanzeige. Reichlich Beispiele zeigen die selbstmörderische Wirkung des Versuchs konservativer Parteien, sich auf einen Emotionalisierungs- und Radikalisierungswettbewerb mit Rechtsaußen einzulassen. Eskalation gewinnt immer das Original. Wer sich anbiedert wird unterwandert, geschluckt oder zerrieben. Gute Sachpolitik mit anderen demokratischen Kräften wäre eine Chance, für moderat konservative Parteien zu gewinnen und ihren Platz in einer demokratischen Gesellschaft zu behaupten.
Ein zentrales Beispiel ist die Migrationspolitik. Die aktuelle Debatte ist geprägt von zwei extremen Polen: Die einen leugnen oder verharmlosen die Herausforderungen, die Migration mit sich bringt, die anderen nutzen das Thema als politischen Kampfbegriff und machen es für alle gesellschaftlichen Probleme verantwortlich. Doch zwischen diesen Extremen liegt die Realität – und die erfordert eine pragmatische Politik.
Deutschland ist längst eines der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt. Mit einem Anteil von rund 20 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund liegt es sogar vor den USA. In den letzten zehn Jahren sind über drei Millionen Flüchtlinge ins Land gekommen. Das bringt unbestreitbare Herausforderungen mit sich – von Integrationsproblemen bis zur Belastung der Sozialsysteme. Doch gleichzeitig braucht Deutschland Zuwanderung, um wirtschaftlich und demografisch stabil zu bleiben. Es führt kein Weg daran vorbei anzuerkennen: Deutschland ist längst ein Einwanderungsland. Die erste Konsequenz daraus lautet: Wir müssen Einwanderung von Asyl trennen und für beides Regelungen finden. Für beides gibt es Länder, die das in großem gesellschaftlichem Konsens regeln.
Giovanni di Lorenzo und Bernd Ulrich haben heute in der ZEIT für einen differenzierten Blick auf die komplexe Realität der Migration plädiert, den ich für eine gute Diskussionsgrundlage halte. Die Herausforderung besteht darin einen Weg in der Migrationspolitik zu finden, der drei Zielkonflikte ausbalanciert:
- Deutschland ist auf Einwanderung angewiesen, fürchtet aber unkontrollierte Migration.
- Offene Grenzen sind wirtschaftlich sinnvoll, aber sozial schwer vermittelbar.
- Humanität und Sicherheitsbedürfnisse müssen in Einklang gebracht werden.
Ein pragmatischer Ansatz muss klare Steuerung mit konsequenter Integration verbinden: Straftaten müssen konsequent geahndet, gelungene Integration stärker belohnt werden. Migration lässt sich nicht mit einfachen Parolen lösen – sie braucht durchdachte Konzepte, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, statt ihn weiter zu gefährden.
Denn am Ende ist Migration nicht das Hauptproblem. Die wahre Herausforderung liegt im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn die politische Mitte weiter wankt, wenn konservative Parteien ihre Prinzipien aufgeben, dann ist das Spielfeld frei für jene, die den Staat von innen heraus zersetzen wollen. Es ist Zeit, dass die demokratischen Kräfte wieder Haltung zeigen. Wer glaubt, die AfD durch Anbiederung zu entzaubern, begeht einen folgenschweren Irrtum. Wehret den Anfängen! Was hier gestern passiert ist, davon geht schlicht und einfach genau rein gar nichts.