Was bitte darf ich hier nicht sagen?

Es gibt in Deutschland keine Redefreiheit! Der amerikanische Vizepräsident hat uns am Wochenende in weniger als 20 Minuten klargemacht, dass die USA weltpolitisch zu einem strategischer Gegner der EU geworden sind. Er sagte, die Werte der EU und der USA passen nicht mehr zusammen. Dem ist nicht zu widersprechen, das Demokratieverständnis in Europa (ich sage bewusst Europa, nicht Deutschland!) ist mit der Sicht auf die Welt der neuen amerikanischen Präsidentschaft nicht zu vereinbaren.

Ausgerechnet die in Europa angeblich mangelnde „Meinungsfreiheit“ als demokratisches Defizit zu markieren entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn gleichzeitig werden zum Beispiel in den USA in Schulen  alle Werke zu Aufklärung und Empfängnisverhütung auf Betreiben der Republikaner entfernt. Gleichzeitig wird Wissenschaftlern verboten, in ihren Publikationen Wörter wie „Klimawandel“ oder „Frauen“ zu verwenden, Journalisten werden von offiziellen Pressekonferenzen ausgeladen, weil sie nicht das absurde „Gulf of America“ verwenden. Der US-Vizepräsident betreibt offen Wahlwerbung für eine rechtspopulistische Partei, und betreibt  einen grotesken Geschichtsrevisionimus. O-Ton des Gouverneurs von Florida: „Unsere Schüler müssen vor Lerninhalten wie Sklaverei oder der Rolle der weißen Vorherrschaft in der amerikanischen Geschichte abgeschirmt werden, weil derartiges sie verstören und ihnen ein schlechtes Gewissen machen könnte.“

Es gibt übrigens in Deutschland wirklich keine Redefreiheit. Dafür haben wir die Meinungsfreiheit, festgelegt im Grundgesetz, nach der jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Dies wird in Art. 5  beschränkt darauf, dass diese nicht gegen allgemeine Gesetze, den Schutz der Jugend oder dem Recht der persönlichen Ehre verstoßen darf. Grenzen der Meinungsfreiheit finden sich im Strafgesetz, wie zum Beispiel den Straftatbeständen der Beleidigung oder der Verleumdung, aber auch der Volksverhetzung oder dem Aufruf zu Straftaten.

Nicht von der Meinungsfreiheit abgedeckt ist, im Gegensatz zu amerikanischen Redefreiheit, die Tatsachenbehauptung. Eine Tatsachenbehauptung ist nach rechtlicher Definition jede Behauptung, die einem Beweis zugänglich ist. Dies bedeutet, vereinfacht dargestellt: Ich darf nach dem deutschen Recht meine Meinung jederzeit von mir geben, soweit ich damit nicht Personen beleidige oder gegen andere Gesetze verstoße. Ich habe grundrechtlichen Schutz für die Verbreitung von Tatsachen, soweit diese nachweislich wahr sind.

Der Unterschied zwischen der deutschen Meinungs- und der amerikanischen Redefreiheit ist enorm, trotzdem weitgehend unbekannt oder unverstanden. Die Behauptung, der amerikanische Präsident plane einen Genozid an Mexikanern, würde in den USA nicht zu einer strafrechtlichen Beanstandung führen. In Deutschland, wie in den meisten anderen Ländern der Welt, allerdings schon, so lange diese Aussage nicht substanziell belegt werden kann. Unsere Gründerväter haben nach dem Nazi-Regime wohl bedacht eine Meinungsfreiheit eingeführt, um zu verhindern, dass Menschen für das Äußern Ihrer Meinung in Gestapo-Kellern verschwinden. Sie haben das Modell „Redefreiheit“ begründet abgelehnt, als Lehre aus der Propaganda der Nazis. Redefreiheit, wie sie in diesen Zeiten in den zum Beispiel in den USA und gewissen Social Media propagiert wird, lehne ich ausdrücklich ab, sie ist ein offenes Einfallstor für Fakes und Propaganda. Ich ziehe das Prinzip der Meinungsfreiheit vor.

Den USA geht es bei ihrem Auftreten sicher nicht um demokratische Grundrechte in Deutschland. „Follow the money“ lautet ein investigativer Grundsatz. Die Förderung der inneren Spaltung Europas, die Unterstützung der extremen Rechten oder der Griff nach Grönland, nach Rohstoffen aus der Ukraine u. a. sind in erster Linie als Taktik zur Schwächung eines Gegners. Damit haben die USA die transatlantische Allianz zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl einseitig beendet, sie wollen mit der EU einen globalen Wettbewerber um Marktanteile und Ressourcen aus dem Weg räumen. Nicht mehr und nicht weniger.

Prioritäten für Europa und unsere Wahlen haben sich damit von selbst gesetzt: Ein einiges und starkes Europa.

Ich bin dringend dafür, großzügig Visa und langfristige Arbeitserlaubnisse und Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler bereitzustellen, die ein eine weltoffene Umgebung für ihre wissenschaftliche Arbeit suchen. Viele von ihnen verlieren gerade in den USA ihre Jobs. Die Offenlegung der Absichten und weltanschaulichen Hintergründe der neuen US-Regierung sollten wir als Chance begreifen, Europa zu einen und in Zukunftsvisionen und -technologien weiter zu bringen. Kann gut sein, dass Europa und Deutschland nach dem Schock des Wegfalls einer alten Wertegemeinschaft neue Stärken in einem einigen Europa finden.

Gottlob kann in Deutschland jeder seine Meinung frei vertreten und öffentlich machen. Die gesellschaftliche Offenheit und Diversität hat jedoch ein Problem: Wir müssen entscheiden, wie viel Offenheit gut ist und wo sie endet. Wir müssen bewerten, wo Kompetenz und Bodenhaftung gegeben ist und wo Fake und Scharlatanerie beginnt. Restriktion ist schädlich, doch zu viel Relativismus ist es auch. Nicht alle Meinungen haben Respekt verdient. Welche Auffassung richtig ist finden wir nur heraus, wenn wir die Wertigkeit von Diskurs und Dissens neu entdecken, ohne dabei zu empfindlich zu sein. Meinungsfreiheit bewährt sich im Streit. Wir dürfen alles sagen, doch nichts bleibt ohne Folgen. Wir stehen unter Begründungs- und Rechtfertigungsdruck, die der Findung der Wahrheit dienen. Falsch verstandene Ausgewogenheit gibt nur Pseudoexperten Raum, den sie nicht verdienen. Meinungsfreiheit muss viele Spielräume lassen, auch für Minderheiten. Alles sagen zu können heißt auch bereit zu sein, Verantwortung für Gesagtes zu übernehmen. Alles, was ausgesprochen wird, folgt Interessen, in gleicher Weise gilt das für Nicht-Gesagtes. Gedanken, Ideen und Schlussfolgerungen folgen nicht einer Schwarz-Weiß-Logik, sie sind streitbar und müssen sich immer wieder beweisen. Es gibt das Gute im Schlechten und umgekehrt. Klarheit, Mut, Ironie, Meinungsfreudigkeit, Diversität, auch Humor sind gute Helfer beim Finden der Leitplanken, die immer wieder neu gefunden werden müssen. .

Am nächsten Sonntag sind Wahlen zum Bundestag. Wenn wir schon über Politik reden, dann mal kurz mal eben Folgendes: Wählen gehen ist wichtig, gerade jetzt. Eine hohe Beteiligung stärkt das Mandat unserer Regierung und des Parlaments. Meine Wahlentscheidung folgt den Gedanken, ein Team mit Weitblick und Zukunftsorientierung zu wählen. Ich will eine Wirtschaft, die nach vorne schaut, die Innovationen fördert, statt an alten Lösungen zu klammern. Diversität und Rechtsstaalichkeit sind mir wichtig, der Mut zu neuem Denken. Ich erwarte, dass in Sachen Migration wir mehr über die Integration der Menschen reden, die unsere Volkswirtschaft dringend benötigt. Wer nur an Abschiebung und Abschottung denkt, zerstört die Existenz unserer Wirtschaft. Deutschland ist ein Einwanderungsland, die Spielregeln für die Einwanderung müssen wir endlich festlegen. Eine klare Trennung zwischen Einwanderung und Asyl gehört dazu, die beiden Begriffe umschreiben völlig verschiedene Sachverhalte. Der Schutz der Menschen vor der ungezügelten Zerstörung des Weltklimas gehört nach ganz oben auf der Aufgabenliste. Wir brauchen eine Politik, die Wohlstand nicht nur an der Spitze wachsen lässt und gerechtere Verteilungsstrategien findet, als wir sie heute kennen. Wir haben keine Zeit mehr um den heißen Brei herumzureden, das haben wir und unsere Regierungen lange genug getan, die Zeiten sind vorbei. Gestaltung statt Verwaltung, so könnte eine gute Zusammenfassung lauten. Perfekt ist keine Wahl, damit müssen wir leben. Ich will Wandel nach vorne, nicht zurück.

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Annegret Grawunder
Annegret Grawunder
1 Monat zuvor

Lieber Martin, sehr gute und verständliche Darstellung – ich kann mir vorstellen, dass vielen hier in Deutschland lebenden Menschen der Unterschied zwischen Meinungs- und Redefreiheit gar nicht bewusst ist und auch die Hintergründe der in Deutschland geltenden Regelung in der Verfassung nicht kennen. Lediglich beim Thema „Trennung Einwanderung – Asyl“ vermisse ich den Hinweis, dass wir bzgl. der Spielregeln für die Einwanderung nicht bei Null anfangen, sondern seit März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) haben, welches unter der Ampelregierung im Juni 2023 reformiert wurde und die in diesem Rahmen festgelegte 3. Stufe trat vergangens Jahr im Juni in Kraft. Auch hier… Weiterlesen »

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