Ein Gedankengang zum Geburtstag und darüber hinaus
Alt hieß bisher immer für mich: mindestens 15 Jahre älter als ich selbst es bin. Ich fürchte, diese Definition ist nicht mehr lange haltbar.
Ich bin gestern 72 geworden. Eine Zahl, die man leicht sagt – aber schwer durchdringt. 72 Jahre gelebtes Leben. Nicht immer gerade, nicht immer geplant, nicht immer leicht.
Aber: voller Fragen, Begegnungen, Umwege, Versuche, Irrtümer. Und mit jedem Tag wächst weniger das Bedürfnis, alles zu wissen – als das Vertrauen, mit Nichtwissen gut leben zu können.
Älter werden hat viel mit Loslassen zu tun – aber nicht mit Verlust. Es ist kein Verschwinden, sondern ein Wandel in der Art, wie man Dinge sieht.
Was früher drängte, tritt zurück. Was blieb, tritt hervor. Man wird nicht weniger – man wird dichter. Der Blick verschiebt sich: Nicht mehr: Was kann ich erreichen? Sondern: Was will ich wirklich berühren? Was berührt mich? Nicht mehr: Wie werde ich gesehen? Sondern: Was sehe ich selbst – in anderen, in der Welt, in mir?
Es ist keine Schwäche, dass manches langsamer geht. Im Gegenteil: Langsamkeit bringt Tiefe. Man spricht nicht mehr, um Eindruck zu machen – sondern, um Verbindungen zu schaffen.
Man hört anders. Man antwortet später – oder gar nicht. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Gelassenheit.
Das Alter verlangt keine Heldenpose. Es erlaubt vielmehr, sich zu entlasten vom Zwang, etwas darstellen zu müssen. In dieser Entlastung liegt eine Freiheit, die man früher gar nicht kannte. Eine Freiheit, die Raum schafft für das, was zählt: Nähe. Aufmerksamkeit. Humor.
Und das Staunen – immer noch.
Alter bringt Abschiede mit sich. Von Gewohnheiten. Von Sicherheiten. Von Menschen. Doch es bringt auch Rückkehr: Zu sich selbst. Zu dem, was man geglaubt hatte, längst verloren zu haben: Neugier. Mut zur Einfachheit. Und – erstaunlich oft – Leichtigkeit.
Es ist keine Schande, älter zu werden, es ist eine Aufgabe. Denn in einer Gesellschaft, die alles beschleunigt, wird Alter zur Gegenbewegung. Nicht aus Trotz. Sondern aus Weisheit. Manche Fragen lassen sich nicht durch Tempo, sondern nur durch Tiefe beantworten
Altern ist kein Mangel. Es ist ein Speicher. Von Geschichten, Irrtümern, Wendungen, Wundern.
Menschen im Alter sind kein Anachronismus – sie sind Resonanzkörper für das, was bleibt, wenn der Lärm sich legt.
Vielleicht ist das Schönste am Altern: Man muss niemandem nichts mehr beweisen. Aber man darf alles noch einmal neu sehen.
Vor alten Menschen sollten sich alle in Acht nehmen. Die haben nämlich nichts mehr zu befürchten.
Ich so, geboren 1953, immer noch unbändig neugierig auf morgen.
[…] haben nämlich nichts mehr zu befürchten.“ An dem, was Martin Lennartz in seinem Blog-Beitrag „Zwischen Reife und Resonanz“ zur Vollendung eines weiteren seiner inzwischen 72 Lebensjahre schreibt, mag was dran sein. Er […]