Stell Dir vor Du stehst in einem Museum für Moderne Kunst vor einem abstrakten Kunstwerk und denkst Dir Deinen Teil. Hab ich neulich mal wieder gemacht. Ich mein einen realen Museumsbesuch, bei dem es viel Abstraktes zu sehen gab. Wenn man zu zweit oder mit mehreren Personen vor so einem Bild steht, ist es unter nicht künstlerisch intensiv vorgebildeten Personen üblich, dass man sich fragend anschaut. „Was will der Absender uns damit sagen?“ Wenn man die Scham des Fragezeichens auf der Stirn überwunden hat, sich über Gesehenes und Wahrgenommenes unterhält, wird Dialog die unausgesprochenen Ausgangsinterpretationen schnell um weitere Sichtweisen auf das Kunstwerk erweitern. So oder ähnlich erleben es Hobbykunstinteressierte und Kunstkenner mögen uns diese naive Sichtweise auf geschätztes künstlerisches Kulturgut nachsehen.
Abstraktion ist die Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, die nicht unmittelbar vor unserem Auge existieren. Statt mit Lautfolgen bestimmte konkrete Gegenstände oder Handlungen zu beschreiben kann Abstraktion Ideen, Konzepte oder Beziehungen kodieren, auch Beziehungen zwischen Informationsbrocken. Wer sich vorstellen will, was das bedeutet der versuche doch nur einen Satz zu bilden, in dem nur Worte über Gegenstände vorkommen, die Du schon real gesehen hast. Das ist schon unter der Bedingung eine schwierige Aufgabe, dass Verben erlaubt sind. Verben werden in unserem heuten abstrakten Sprachgebrauch häufig genutzt, um Absichten oder Aufforderungen auszudrücken, die über die unmittelbare Realität hinausweisen. Man stelle sich allein vor, welche komplexen Inhalt und Ereignisabfolgen sich hinter „stricken“ oder „jagen“ verbergen. Ohne die Fähigkeit zur Abstraktion sind Verben nur mit großen Einschränkungen vorstellbar. Wenn es jetzt so langsam dämmert, welche Bedeutung Abstraktion für Sprachentwicklung, zur Beschreibung und für den Umgang mit unserer komplexen Welt hat, so hat diese Einsicht bis hierher schon mal eine Selbstverständlichkeit zur folgenschweren Erkenntnis befördert.
Ohne abstrakte Sprache wären wir nicht nur unfähig, komplexe Konzepte zu entwickeln, wir könnten diese nicht einmal kommunizieren. Unsere Vorfahren vor 70.000 Jahren hätten keine Chance sich mit uns mittels Sprache zu verständigen. Eine Veränderung der Struktur unseres Gehirns hat dies möglich gemacht. Ich habe einmal gelesen, dass die Herausbildung der Fähigkeit zu feinmotorischem Greifen diese evolutionäre Veränderung der Gehirnstruktur befördert hat, die dann exaptiv (Gegenpol zu adaptiv. Exaptiv ist, wenn etwas Bekanntes für einen neuen Zweck angewandt wird) abstrakte Denk- und Sprachmuster ermöglichte. Diese kognitive Revolution hat Fähigkeiten und Konzepte möglich gemacht, Voraussetzung für die Wahrnehmung und den Umgang mit Komplexität. Kunst hat dabei wahrscheinlich eine maßgebliche Rolle gespielt. Die bekannten urzeitlichen Höhlenmalereien beschreiben vor allem abstrakte Jagdszenen, die den Betrachtern für die Entwicklung einer abstrakten Sprache zur Beschreibung abstrakter Bilder nützlich waren.
Bytheway, Kunst in allen bekannten Formen ist die hohe Schule der Abstraktion, die neue Verknüpfungen von Ideen, Konzepten und Sichtweisen in besonderer Weise möglich macht. Willst du Innovation, „Management für Serendipität“ (ein glückliches, zufälliges Ereignis), neue Gedanken und Kombinationen fördern, sind künstlerische Aktivitäten und Ablenkungen für Groß und Klein das beste Gehirntraining. Das gilt selbstverständlich auch für Ingenieure und beim Umgang mit Ordnungssystemen, solange es nicht um eine ganz bestimmte Ordnung sondern Ordnung im Allgemeinen geht. Daher halte ich zum Beispiel in unseren Schulen künstlerische Fächer für mindestens ebenso wichtig wie den Drill unserer Kinder in bekannten Ordnungssystemen wie den MINT-Fächern. Dies nur am Rande.
Das Prinzip der Abstraktion ist die Analogie. Worte und Ideen entspringen der Beobachtung von Ähnlichkeiten. Verallgemeinerungen helfen Ordnungssysteme zu erfinden. Definierte Begriffe existieren nur in unseren Köpfen, Feststellungen sind nur Ruhepunkte für unser Denken. So wird aus Unruhe Ordnung, aus Unsicherheit wird Berechenbares. Wir benötigen Ordnung und Struktur, um in der komplexen Natur nicht unterzugehen. Dennoch ist Ordnung nicht wirklich, sie ist eine Sehnsucht. Ordnung ist kategorial, Abstraktionen sind Prototypen einer logischen Ordnung. Unsere Sprache abstrahiert, die Wirklichkeit kennt keine Abstraktionen. Die Natur und wir sind Lebewesen, weder sie noch wir gehorchen toten Begrifflichkeiten. Deshalb ist die scheinbare Ordnung immer nur Ordnung für einen ganz bestimmten Zweck.
Ich gebe zu, das ist etwas philosophisch. Hat aber einen sehr konkreten und realen Hintergrund. Diese Gedanken entspringen meiner immer tiefgründiger werdenden Beschäftigung mit Komplexität, deren Verständnis ich für ein Schlüsselthema unserer Zeit halte. Ein eindimensionaler Ordnungsbegriff und wenig Verständnis über Handlungskonzepte der Natur sind immer wieder ein Hindernis beim Verstehen einer Welt voller Muster und Veranlagungen, aber ohne konkretes Ziel und Masterplan. Willst du Neues entdecken, musst Du die Wirklichkeit verstehen. Auch wenn sie nur in engen Bahnen wirklich zu verstehen ist. Diesem Grundgedanken entspringt das Bedürfnis zu diesem Blog. Wenn es außer mir noch einem gefällt, dann war es sinnvoll …..
…War „sinnvoll“ UND hilfreich -> hatte heute bei meiner dualen Erzieherausbildung in der Schule in der Ästhetischen PRAXIS eine fraU, die punkt/tupf-MUSTER gemalt, wie man sie als archetypische und universelle abstrakte kunst bei diversen Höhlenmalereien rund um die welt findet. was mich bei der suche nach verknüpfungen dazu an deinen gedankengängen fasziniert hat, war die beziehung zum ‚gabel-teller-ich problem‘, das wir heute ebenfalls in MINT am wickel hatten – Danke für die Anregung!