Als der Zeitgeist noch Hitze hatte – Erinnerungen eines Wildgebliebenen

Passend zur Urlaubslektüre: Fenster des RockBoxCafés in Alcacer do Sal

Ich sitze in Portugal am Strand, vor mit die unendliche Weite des Atlantik, Wind, Wellen, allein mit einem Buch, gerade den Buchdeckel zugeklappt, ausgelesen. Doch. die Zeitreise geht weiter, zu der mich das Buch von den ersten Seiten an eingeladen hat. So war ich bei meiner Reise stets in aufregender Begleitung, Träume und Erinnerungen kamen zu neuem Leben, Rhythmen vibrieren in meinen Ohren, so mancher Sound wird taktvoll auf den Schenkeln mitgetrommelt. Eine Zeitreise mit Vollprogramm, alles dabei: Politik, Jugend, Rebellion, Liebesgeschichten, große Gefühle und zarte Zwischentöne, Euphorie und Desillusionierung, Irrtümer und scheinbare Gewissheiten, alles, was man so als Heranwachsender mit sich herumschleppt. Nicht zu vergessen: knisternde Vinylplatten! Später dann, Verhältnisse bröckelten, Sichtweisen wuchsen, alte Begegnungen in neuen Umständen, das Leben sucht neue Wege, Erinnerungen bleiben, alles so, wie selbst erlebt und erfahren. Kein zurück in Nostalgie, sondern Gefühle neu erleben mit der Abgeklärtheit des Alters. Year! 

Das wird keine klassische Buchrezension, ich lade ein zu  einer Wanderung mit Zeitgeistern. Für mich ist es eine Hommage, ein Lebenszeichen, eine Resonanz mit Dank an eine wilde, stolze, manchmal irrsinnige, aber großartige Zeit und an all die Menschen, die sie geprägt haben. 

Die „Lila Eule“ von Cordt Schnibben ist weit mehr als eine literarische Spurensuche. Es ist eine Einladung zu einer Begegnung mit mir selbst. Da ist der junge Mann mit wachem Blick, mit Protest in der Stimme und Hoffnung im Rucksack. Die Lila Eule erinnert an die Jahre, in denen wir noch überzeugt waren, dass Politik persönlich ist. Wir mussten nur laut genug sein, um die Welt besser zu machen. Oder zumindest: anders. Ich spüre diese Mischung aus Revolte, Romantik und dem Ringen um das Richtige. „Zeitgeist“ – nicht als Modeerscheinung, sondern als Puls, als Haltung, als tiefes Bedürfnis nach Veränderung und Verbindung.

Bei mir haben besonders einige Parallelen im Leben von Cordt Schnibben und mir starke, erinnernde Gefühle erzeugt. Cordt und ich sind uns einmal kurz begegnet, auf den unendlichen Fluren des Hamburger Pressehauses, bei der ZEIT. Cordt war damals schon ein großartiger Reporter, Masterclass. Ich habe stets ungeduldig auf seine nächste Reportage gewartet. Ich, der junge Verlagsleiter des antiquierten Verlagsteils einer tollen Zeitung, der aus der Zwangsjacke einer autoritären Arbeitsstruktur neidisch auf die Freiheitsgrade einer unabhängigen Redaktion blickt, die Hoffnung nicht aufgebend, dass auch in den Verlag der Geist der Moderne irgendwann Einzug hält. Wenn wir geahnt hätten, das uns mehr verbindet als das Alter, alterstypische Musikvorlieben, der Beat Club und Jugendparties, daraus wäre bestimmt ein besonderer Abend geworden. Doch es ist bei dieser kurzen Begegnung zweier gegenseitig Unbekannter geblieben.

Ich war auch in Biesdorf, wie Cordt offensichtlich. Ein Ort, an dem nicht nur diskutiert, sondern auch gedrillt wurde, eine Mischung aus Aufbruch und Enge. Damals musste man links sein, alles andere hätte Zustimmung zu einem Status quo bedeutet, der für uns schlicht unerträglich war. Es war eine Zeit der Intensität, manchmal zu eng, manchmal zu groß – aber immer echt. Wir waren nicht gleichzeitig dort, doch es war dieselbe Luft, dieselbe Unruhe, dieselbe Zeit. Wir lernten nicht nur politische Ökonomie, wir machten sie. Oder zumindest: wir machten mit. Linke Politik war damals keine Option, sondern Haltung. Und ja, sie hatte auch ihre Schatten. Wir sahen schwarz-weiß, wo heute Grautöne angebrachter wären. Was wir allerdings hatten – was mir manchmal am heute fehlt: Glaube, Überzeugung. Nicht im religiösen Sinn, sondern als Kraft. An Veränderung. An uns. An Gemeinschaft.

Vielleicht ist das, was mich am meisten bewegt, nicht die Nostalgie, sondern die Frage: Wo ist unser kollektiver Unruhegeist geblieben? Und was braucht es, damit wir wieder aufstehen – nicht mit erhobener Faust, sondern mit offenem Herzen und wachem Verstand?

Was bleibt ist die Lust am Denken, die Sehnsucht nach Verbundenheit, die Weigerung, das Leben einfach laufen zu lassen.

Die Lila Eule ist nicht nostalgisch, sie ist auch keine Heldengeschichte. Sie ist ehrlich. Manchmal schmerzhaft, manchmal zärtlich. Und sie gibt mir das Gefühl: Wir waren nicht allein in unserem Irrsinn. Wir waren viele, und wir hatten recht, auch wenn wir oft falsch lagen.

Die lila Eule ist die Chronik eines Suchens, das größer war als wir selbst. Und das heute noch in uns lebt. Vielleicht liegt unsere wahre Revolution nicht in dem Umsturz, der ja nie stattgefunden hat, sondern darin, nicht zu vergessen,  dass ein Aufbruch möglich ist. Immer. Auch jetzt.

Flieg, lila Eule, flieg!

Ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn Cordt und ich früher schon mal zusammen einen Wein getrunken hätten. Vielleicht in Hamburg, vielleicht in Biesdorf, vielleicht irgendwo zwischen Redaktionsschluss und ideologischer Erschöpfung. Es wäre ein gutes Gespräch geworden. Über Utopien. Über Irrtümer. Und über das, was bleibt. Und in mir flüstert eine Stimme von damals: „Lass uns noch nicht aufhören zu glauben.“ Die lila Eule fliegt. Und sie hört nicht auf. 

 

 

Nachtrag 1: Ein persönliches Dankeschön an Cordt Schnibben für dieses wunderbare Buch und alle damit verbundenen Gedanken und Gefühle.

Ich habe von Deinem gesundheitlichen Schicksalsschlag gelesen. Gute Genesung, alles Allerbeste für Dich! 

 

 

Nachtrag 2: Worum geht es eigentlich in der Lila Eule? Wie gesagt, ich wollte keine Rezension schreiben. Lassen wir es den Autoren selbst beschreiben: Auf den ersten Blick um Carl, einen 18-jährigen aus Bremen, Kabelträger in der Bremer Kult Sendung „Beat-Club“ und Stammgast in der „Lila Eule“, zieht aus Protest gegen seinen Nazi-Vater 1972 nach Ost-Berlin und verliebt sich in Mara – doch der Hippie fliegt aus der DDR. Nach dem Fall der Mauer sucht Carl seine große Liebe im Chaos des zerfallenden Sozialismus.

Auf den zweiten Blick geht es um eine Zeit in den 60ern, in der Deutschland liberaler und weltoffener wurde, in der sich vieles entwickelte, was im Rollback durch Rechte wie AfD&Co. hin zum nationalistischen Dödel-Deutschland wieder abgeräumt werden soll.

Andere meinen:  „Virtuos, erzählte Zeitgeschichte – zum ersten Mal bereue ich, ein paar Jahre zu spät geboren zu sein.“ (Klaas Heufer-Umlauf) „Eine Achterbahnfahrt, die sehnsüchtig macht: wüst und fein, brüllend lustig und tief traurig, zum Lieben und zum Fürchten“ (Doris Dörrie). 

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