Beratung ohne Grenzen

Mehr Grenzüberschreitung, bitte!                                    Foto: Mark Fletcher-Brown auf unsplash; https://unsplash.com/photos/rkfObQclwx4

 

Eine der schwierigsten Fragen, die man mir stellen kann lautet: „Was machst du eigentlich so beruflich?“ Meistens rede ich mich umschreibend raus. Weil klassische Begriffsbilder allesamt nicht passen. Berater, Trainer, Coaches, Mediatoren, Organisationsentwickler haben unter ihresgleichen und miteinander zu viele unüberwindbar scheinende Gräben zelebrierter Glaubenssätze. Dazu Abgrenzungen gegenüber Therapeuten, Psychologen, Supervisoren, …. . Natürlich gibt es Unterschiede, besonders erkennbar in den Grenzbereichen der genannten Zünfte. Aber so im alltäglichen Gebrauch beschäftigen sie sich alle mit zwischenmenschlichen Konflikten, die ein jeder mit mit sich selbst hat oder mit den komischen Leuten, die einen so umgeben oder mit denen man mal zu tun hatte. Ganz egal ob in einer Beziehungskiste, der Nachbarschaft, unter Kollegen, Freunden und Gegnern diesseits oder jenseits imaginärer oder echter Grenzen: es geht immer irgendwie um Emotionen, selbst wenn Manager das nicht so gerne hören. Sich selbst „Unternehmer“ zu nennen ist eine schnell entlarvte Krücke, die unmittelbar folgende Nachfrage führt zurück ins Dilemma. „Influencer“ als Selbstbezeichnung finde ich anmaßend, geht überhaupt nicht. Industrieschauspieler, Escort Service oder Animateur haben zwar etwas, könnten aber missverstanden werden, daher ungeeignet. Mein Maskottchen und Markenzeichen „konstruktiver Irritierer“ gefällt mir immer noch großartig. Der lässt mich laut aussprechen, was ich schon lange denke, fühle, praktiziere. Gleichzeitig passt er als einleitende Figur zum Thema dieses Blogs.

Jeder Kunde, Klient, Coachee oder wie immer man sie bezeichnet hat Emotionen, das ist unmittelbar einsichtig. Doch auf der anderen Seite der Couch vermutet man sie eher nicht. Für den Berater (oder siehe oben) ist das schon verzwickter. Nicht-Therapeuten sind der festen Überzeugung, um psychische Befindlichkeiten einen weiten Bogen machen zu müssen. Damit schützen sie sich selber davor etwas loszutreten, was ihrer Kontrolle entgleiten könnte. Gleichzeitig ist es kundenfreundlich, denn es wiegt den Kunden in der komfortablen Sicherheit, er habe keinen psychischen Defekt und noch alle Tassen im Schrank, er sei kein Fall für Therapie oder Klapse. Das reduziert die Hemmschwelle für Folgeaufträge. Arbeitsaufträge grenzen wir emotionslos ab, beschränken uns auf Entscheidungshilfen, tragfähige Kompromisse, agile oder andere Buzzword-Prozesse und andere scheinbar rationale Betätigungsfelder. Für alles andere fehlt die Zuständigkeit, man ist  ja kein Psychotherapeut. Es braucht keine geschlossene Abteilung einer Psychiatrie um emotionale Betroffenheit zu entdecken, die gibt es so zahlreich wie Ameisen im Wald. Für alle In Systemen denkenden Kollegen sei erwähnt: ich rede hier von den Auswirkungen, nicht von den Ursachen der uns beschäftigenden Konflikte und Ärgernisse. Ich gebe mit meinen Gedanken keinen bestimmten Lösungsweg vor, ich will mich keiner Norm unterwerfen. Ich setze Interventionen von streng strukturiert bis laisser faire ein. Mir geht es hier ausschließlich um die Herstellung einer dialogtauglichen Kommunikationsbasis für das Verstehen und darauf aufbauende Handlungen.

Emotionen spielen in allen Konfliktsituationen eine wichtige Rolle, im Allgemeinen und im Management. Je enger irgendein Beratungsansatz seinen Rahmen steckt, desto handlungsunfähiger wird die Beratung. Therapeuten lassen gerne die harten Fakten außen vor und konzentrieren sich auf die Psyche des Individuums. Berater & Konsorten beschränken sich gerne auf harte Fakten und sachliche Hindernisse. Doch jede Beschränkung reduziert Optionen und Möglichkeiten. Erschwerend hinzu kommt oft der Glaube an die Schutzbedürftigkeit und Schwäche eines Kunden. Der darf nur mit Vorsicht und Samthandschuhen angegangen werden, im klassischen Consulting tritt dieses Denkmodell im Gewand des Beraters als gottgleich allwissend auf. Immer liegt der Fokus auf echten oder vermeintlichen Defiziten, die man als Berater „wegmachen“ soll. So verschieden diese Unterwerfungsmechanismen auftreten, sie erhöhen die fürsorgliche Position des Beratern als stark und wissend und erniedrigen den Kunden oder Klienten als schutzbedürftig und ahnungslos.

Die Idee, dass all die verschiedenen Beratungsformen völlig verschiedene Geschehnisse im Fokus haben stimmt nur bei einem sehr eng eingegrenzten Verständnis von ihnen. Grenzen zwischen verschiedenen Beratungsbereichen verschwimmen immer mehr. Natürlich kann und soll nicht jeder alles machen, Extremfälle sind Gott sei Dank die Ausnahme. Häufig wäre es ein Fortschritt, wenn Berater jedweder Couleur von absoluten Wahrheiten und Missionierungsversuchen Abstand nehmen, sich nicht hinter den üblichen Modellen und standardisierten Vorgehensweisen verstecken und ihre Kunden als fähig ansehen, ihre Probleme mit eigenen Ressourcen lösen zu können, deren Zugang möglicherweise verschüttet oder mental blockiert ist. Berater sollten eigene Glaubenssätze relativieren und persiflieren können. Die in jedem Beratungsauftrag bittend oder fordernd vorgetragene Frage „Sag mir, was genau ich tun soll“ verbunden mit der Erwartung eines stets gelingenden Fertigkuchenrezeptes, sorgenfrei und zukunftssicher ohne Risiken und Nebenwirkungen, ist der Einstieg in eine Dialogform, die nicht auf Augenhöhe stattfindet, die Ressourcen des Kunden klein und unwirksam werden lässt sowie Gefahr läuft, sich nur einem kleinen Ausschnitt des Arbeitsspektrums zuzuwenden. Das mag gut sein für die beratende Zunft, die so Abhängigkeiten und Folgemandate erzeugt (wenn nicht bei dem einen, dann eben bei einem anderen Berater). Nachhaltige Lösungen werden so jedenfalls nicht geschaffen.

Ja, richtig verstanden: Ich plädiere für mehr Grenzüberschreitung in beratenden Berufen. Berater helfen Wege aus Opferrollen zu finden, Blickwinkel zu erweitern, neue bisher unsichtbare Lösungswege zu finden und selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Gute Beratung ist Katalysator für Selbstorganisation und eigenverantwortliches Handeln der Kunden, Klienten oder Auftraggeber. Und wenn jemand lachend mit der Bitte anruft, mal wieder konstruktiv irritierend den Spiegel mit aller Offenheit vorgehalten zu bekommen, dann habe ich das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.

Ein nützliches Modell zur Veranschaulichung der verschiedenen Betrachtungsweisen stammt von Ken Wilber. Es handelt sich dabei um eine Art Landkarte zum besseren Verstehen. Es zeigt vier  Möglichkeiten der Betrachtung unseres Daseins, es ist anwendbar auf die Arbeit mit Menschen, Organisationen, Gesellschaften. Das banale, aber wichtige Postulat: Verschiedene Sichtweisen einnehmen, beim Verstehen, Ideen finden, Handeln. Beachte eine gewisse Balance und Ausgewogenheit der vier Domänen. Einseitigkeiten begünstigen Fehlentwicklungen. Beispiel gefällig? Das religiös geprägte Mittelalter war dominiert von Artefakten von unten links; die Kirche bestimmte, was unsere Vorfahren denken durften, welche Handlungen erlaubt oder unter Strafe gestellt werden mussten. Wissenschaft (unten rechts) war nicht angesagt, sie widersprach immer öfter der herrschenden Glaubenslehre. Heute sind wir in unserem Denken sehr ökonomisch von Prozessen und Strukturen dominiert (unten rechts), alles wird ökonomisiert, das Geld regiert die Welt. Wie auch immer man dazu steht und was sich auch ein jeder wünscht: Das Paradigma Weisheit gewinnt in der Beratung eine zunehmende Bedeutung. Dazu gehören affektive Eigenschaften wie Empathie oder die Fähigkeit Emotionen zeigen, sie bei sich und anderen erleben zu können. Intelligenz und prozessuale Sichtweisen finden keinen Zugang zu Widersprüchlichkeiten oder Ambiguitäten, Weisheit kann konstruktiv damit umgehen. Kluge Menschen berücksichtigen bei ihrem Empfinden, Denken, Wollen und Handeln all diese 4 Ebenen, sie sind intelligent und haben einen Anflug von Weisheit, sie tanzen und jonglieren mit Systemen und mit Emotionen.

Willst Du Grenzen überschreiten, musst Du im eigenen Kopf anfangen. Vor allem methodische Grenzen, Glaubenssätze sind hinderlich. Vor dem „Tun“ steht das „Zulassen“, sich selber Gedanken, Bilder, Phantasien, Gefühle, Empfindungen erlauben. Wissenschaft und gute Beratung stecken voller Beispiele, wie bahnbrechende Erkenntnisse und Entdeckungen durch Intuition oder blinden Zufall zustande kamen, fragt mal Archimedes oder Newton. Grenzen von Arbeitsdisziplinen entstehen im Kopf, sie haben mehr mit ständischen Interessen zu tun als mit der Lebenswirklichkeit eines Kunden oder einem auf dem Prüfstand stehenden Prozess. Je umfassender Wissen, Erfahrungen und persönliche Reife sind, desto mehr verschwimmen Grenzen verschiedener Beratungsansätze. Methoden, Regeln, Modelle, Lehrbücher, Phasen haben ihre Bedeutung, nichts dagegen zu sagen. Aber in der konkreten Arbeit ist es nützlicher, alle Antennen auszufahren und sich auf das konkrete Hier & Jetzt und seine Intuition einzulassen. Tabus sind Grenzen im eigenen Kopf, Könner dürfen sie im Interesse der Sache durchbrechen. Lösungen sind oft so ungewöhnlich, wie die Menschen und die Systeme, mit denen wir zu tun haben. Manchmal ist eben das eine richtig, manchmal auch das Gegenteil. Und oft steckt in einem guter Witz oder einer passenden Anekdote mehr Weisheit als in einem 400 Seiten starken Lehrbuch. Der Konstruktive Irritierer lässt grüßen!

 

 

 

 

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Uli Drescher
2 Jahre zuvor

Hallo Martin, im Gemeinderat ist‘s gerade langweilig ( nur noch Bauanträge), daher ein kurzer Kommentar: Wir alle leben in und formulieren daher aus „Lokaler Rationalität“, also aus unserem Welt-, Zunft-, Funktions-und Rollenverständnis heraus. In Coachings, Meetings und Konflikten geht es (für mich) also vorrangig darum, die jeder/m innewohnende „lokale Rationalität“ deutlich und unterscheidbar zu machen. Dann erst ist es im nächsten Schritt oft hilfreich, über einen neuen, anderen Begriff allen Beteiligten eine Brücke zu neuer -hoffentlich gemeinsamer- Erkenntnis zu öffnen. ( Jetzt geht‘s weiter mit dem Bauantrag: Freiburger Strasse 7/9 ;/)).
Meine selbstgewählte Berufsbezeichnung ist übrigens „Gesprächshelfer“….
Gruss,
Uli

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