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Der nicht mehr ganz neue Kanzler gibt den starken Mann – dabei wäre jetzt der Moment für Einsicht, nicht für Attacke. Ich habe mir Gedanken gemacht, warum es nicht schlimm ist, sich zu irren, sofern man was draus lernt.
Wenn keiner mehr sagt: Ich hab mich geirrt
Ich lese die neuen Wirtschaftsprognosen. Wieder nach unten korrigiert. Wachstum peanuts. Investitionen stocken, Vertrauen bröckelt. Und ich frage mich: Wann fangen wir endlich an, ehrlich zu miteinander zu sprechen? Es sind nicht nur Zahlen. Es ist ein strukturelles Problem, das sich seit Jahren abzeichnet – ein Land im Umbruch, im Verharren und in wachsender Gereiztheit. Ein politischer Diskurs, in dem Irrtum tabuisiert wird, als wäre er das Gegenteil von Führung.
Habeck hatte recht – leider
Ich bin nicht Fan seiner Wortwahl, nicht jeder seiner Vorschläge ist durchdacht. Aber Habeck hat das Richtige benannt: Deutschland ist verwundbar geworden. Wir steuern auf einen Umbau zu, der weder bequem noch populär sein wird. Er hat’s gesagt – zu früh vielleicht, zu forsch, zu intellektuell für manche. Er hat polarisiert.
Aber er hat nicht gelogen. Die Realität gibt ihm recht. Polarisiert haben andere auch, eher noch mehr. Nun ist er weg. Es regiert ein anderer, der sich nichts sehnlicher als das gewünscht hat.
Merz hat die Wahlen gewonnen – mit Getöse und Versprechen
Friedrich Merz hat den Ton gesetzt: Klartext, Basta, Kanzler der Tat, das Land verdient eine neue Regierung. Er hat die Wahl gewonnen, auch weil er das Bedürfnis nach Ordnung und Entlastung bedient hat. Jetzt, wo die Versprechen auflaufen gegen die Wirklichkeit – mehr Investitionen, weniger Steuern, mehr Wohlstand ohne Zumutung – wäre der Moment gekommen, ein erstes Zwischenfazit zu ziehen.
Aber was kommt? Kein Innehalten, kein Infragestellen, kein Korrekturwillen. Stattdessen: Noch mehr Attacke. Noch mehr Schuldzuweisungen. Noch mehr Spaltung.
Ich bin kein Moralapostel. Doch ich höre zu. Und ich erinnere mich
Ich erinnere mich, wie viel Häme über die letzte Regierung ausgegossen wurde. Wie lächerlich gemacht wurde, was heute bittere Realität ist. Ich erinnere mich an die Kampagne: „Habeck – der schlechteste Wirtschaftsminister aller Zeiten“. Und nun? Die Wirtschaft schwächelt weiter, trotz riesiger Infrastrukturprogramme, die auch noch zweckentfremdet werden. Haushaltslöcher werden gestopft statt entschlossen an Strukturen zu arbeiten. Strukturelle Probleme sind nicht verschwunden, sie sind ernster denn je. Und der neue Kanzler? Der spielt weiter Opposition – aus dem Kanzleramt heraus.
Was macht das mit uns?
Ich bin kein Politiker. Aber ich begleite Menschen in Führungsverantwortung. Menschen, die sich manchmal irren. Sie gehen neue Wege, die nicht immer gleich funktionieren Wer Neuland betritt, kann irren. Es braucht dann einen Moment des Innehaltens, des Lernens, des Korrigierens.
Genau das macht Reife aus: Irrtum nicht als Scheitern zu betrachten, sondern als Chance, klüger zu werden. Führung heißt nicht, nie falsch zu liegen. Führung heißt, daraus etwas zu machen.
Was, wenn Korrektur nicht vorgesehen ist
Dann passiert, was gerade passiert: Die Ränder wachsen. Die Wut gärt. Und die Mitte verstummt – oder zieht sich resigniert zurück.
Ich mache mir Sorgen, nicht aus parteipolitischen Motiven. Sondern weil ich glaube, dass eine Demokratie ohne die Fähigkeit, Irrtümer zuzulassen, in sich selbst erstarrt. Wir haben nicht mehr viele Patronen im Lauf. Das meine ich nicht martialisch, sondern zivil. Wenn Politik nicht bald einen Umgang mit Komplexität und Scheitern findet – dann radikalisiert sich die Gesellschaft weiter.
Ich bin kein kein Besserwisser, ich will keiner sein – ich will gehört werden
Ich schreibe dies nicht, um Friedrich Merz oder Parteien anzugreifen. Ich schreibe, weil ich mir wünsche, dass Politik sich wieder als lernende Praxis versteht. Dass Verantwortung etwas mit Haltung zu tun hat – und nicht mit gespielter Haltung für Blitzlichtgewitter. Ich bin kein Sympatisant dieser Regierung, doch ich wünsche mir für unser Land, dass sie Erfolg hat. Alternativen sind nur gruselig.
Ich wüsche mir, ein Kanzler sagt irgendwann: „Ich habe unterschätzt, wie komplex die Lage ist. Ich habe gelernt. Und ich bin bereit, den Kurs zu überdenken.“ Das wäre kein Zeichen von Schwäche. Sondern von Charakter. Den vermisse ich. Zugegeben, das schon länger.
Coachingblick: Die eigentlich naheliegende Antwort
Als Coach erlebe ich häufig Menschen, die sich verrannt haben. In Organisationen, in Familien, in der Politik. Die Lage ist verfahren, der Ton ist scharf, Brücken sind verbrannt. Was jetzt?
Die nächstliegende Antwort ist leider oft die letzte, die in Betracht gezogen wird:
Ich habe mich geirrt.
Ich habe Schaden angerichtet.
Ich habe gelernt.
Das ist Führung. Führung, die nicht mehr vorgibt, alles zu wissen. Sondern den Raum öffnet für Neues. Ein Bundeskanzler, ein Vorstand, ein Elternteil, ein Nachbar – wir alle kommen irgendwann an den Punkt, an dem nicht mehr das Verteidigen zählt, sondern das Verlernen.
Wer das öffentlich macht, riskiert. Gewinnchancen sind allerdings hoch. Es geht nicht um Makellosigkeit. Es geht um Integrität. Um die Fähigkeit, wieder in Resonanz zu kommen – mit sich, mit anderen, mit der Wirklichkeit. Wer politisch Vertrauen gewinnen will, braucht weniger Umfragen, es mehr innere Arbeit und sichtbare Weichen für Aufbruch und Neubeginn..

Lieber Martin, einmal mehr auf den Punkt. Gut beobachtet und eingeordnet. Mir wird ganz plümerant bei dem ganzen Getöse und polemischen Gewese. Man weiß, dass man sich verbrannt hat, stürmt aber unbeirrt weiter auf dem falschen Weg, nur um nicht sagen zu müssen, Habeck hätte in einigen seiner Aussagen und Reaktionen recht. Ich habe seinerzeit das ganze Habeck- und Baerbockbashing schon nicht nachvollziehen können, vor allem, weil kaum jemand etwas substanzielles vorzubringen hatte. Aber das scheint immer mehr en vogue zu sein, wenig Ahnung bei viel Meinung, das treibt mich um und raubt mir den Schlaf. Danke für Deine klare… Weiterlesen »
danke, liebe elke. ich schreie, so laut ich kann. du siesht ja, es hält mich nicht auf dem stuhl, ich muss immer häufiger zur tatstur greifen! glück auf uns allen.
Lieber Martin, die glaubst nicht im Ernst, dass diese Regierung Fehler macht, äh eingesteht? Sich gar entschuldigt? Über Jahre hinweg haben Vertreter der Union die Grünen – und vor allem auch Habeck – in Grund und Boden polemisiert. Noch am Abend vor der Wahl hat der heutige Bundeskanzler sinngemäß in die Mikrofone getrötet, „grüne und rote Spinner haben in diesem Land künftig nichts mehr zu melden.“ Nicht erst da zeigte sich: Er hat das Wesen einer Demokratie nicht verstanden. Zwar hat die sich im Dauergelb zerreibende Ampel zweifellos teilweise unglücklich agiert, doch übte sich zeitgleich eine Union in einer selten… Weiterlesen »
ja, lieber anselm, du hast ja leider so recht. und ich bin nicht so naiv, wirklich daran zu glauben, dass diese cdu ernsthaft einen neuen anfang sucht. dazu wäre es nötig das zu tun, was ich zu beschreiben versucht habe. so werden wir weiter abwärts schliddern, vermeidbarerweise. wer nicht lernen will, muss büßen. leider betrifft uns alle das mehr als die verantwortlichen. bloß warum wählen wir sie dann? ja, ich weiß, wir beiden nicht!
Wie sagt man bei uns im „Pott“ noch so schön: Kann man so machen, wie der Merz. Is dann halt schei.e.