Bild: Levi Loot auf unsplash
Manchmal reichen ein paar Takte Musik, um eine Zeit wieder aufzurufen.
An einem verregneten Urlaubstag auf einer Nordseeinsel höre ich eine nostalgische Playlist. Gerade läuft „Child in Time“ von Deep Purple. Ich erinnere mich, es live bei einem der großen Popkonzerte damals in der persönlichen Sturm und Drangzeit mitgefiebert zu haben. Ein Protestlied. Ein Schrei gegen den Krieg. Gegen den Vietnamkrieg, damals, für Frieden und die Neuerfindung einer Gesellschaft, die die Zeitläufte längst überholt hatten. Ich erinnere mich an Konzerte, an Gespräche, an das Gefühl, dass Musik Haltung für mich gewesen ist. Sie erinnert, mahnt, rüttelt auf. Musik findet eine Sprache für das, was man selbst noch nicht fassen kann.
Manchmal reichen ein paar Takte Musik, um eine Zeit wieder aufzurufen.
Heute höre ich diesen Song wieder. Mit anderen Ohren, mit einem erweiterten Lebenslauf, darin enthalten viele neue erkenntnisreiche Kapitel, doch die innere Unruhe, sie erinnert mich an damals. Denn auch heute scheint sich etwas zu verschieben. Nicht laut und dramatisch, sondern still und schleichend. Und es trifft mich – vielleicht, weil ich gelernt habe, auf Zwischentöne zu achten.
Ich beobachte, wie politische Sprache verroht, wie Grenzen des Sagbaren sich verschieben, wie konservative Stimmen sich immer weniger trauen, klar konservativ zu sein und stattdessen rechts blinken, um Applaus aus der falschen Ecke zu bekommen.
Das jüngste Beispiel: die sogenannte Stadtbild-Diskussion.
Was da an Geschmacksfragen ins Politische aufgeladen wird, ist nicht banal. Es ist ein Symptom. Für einen kulturellen Verlust. Und für eine CDU, die sich offenbar nicht mehr an ihren eigenen Werten orientiert, sondern an der Lautstärke des rechten Rands. Ich selbst gehöre nicht zu der primären Zielgruppe konservativer Argumente. Doch ich halte sie in unserer Gesellschaft für einen unverzichtbaren Teil des politischen Spektrums.
Warum ich das sage? Was das mit mir zu tun hat? Ich bin kein Parteipolitiker. Aber ich trage Verantwortung. Als Vater. Als Opa. Als Teil dieser Gesellschaft. Als jemand, der Systeme beobachtet – und mitgestaltet. Als jemand, der in vielfältigen und verantwortlichen Lebensrollen an dieser Gesellschaft mitwirkt und gestaltet hat.
Ich komme aus einer Zeit, in der klare politische Positionen eine Frage der Haltung gewesen sind. In der wir gelernt haben, dass Demokratie nicht nur eine Staatsform ist, sondern eine tägliche Praxis.
Ich sehe heute mit Sorge, wie sich diese Praxis auflöst. Nein, niemand putscht hier, das ist nicht meine Sorge. Doch es schweigen zu viele!
Als systemtheoretisch denkender Beobachter weiß ich: Gesellschaften kippen meist nicht durch einen großen Knall. Sie mutieren durch viele kleine Schritte, die niemand spürt oder beklagt, weil sie jeweils zu klein und unbedeutend erscheinen. Erst verliert die Sprache ihre Präzision. Dann die Begriffe ihre Bedeutung. Dann die Menschen ihre Haltung.
Ich schreibe das hier nicht aus nostalgischer Verklärung alter Zeiten, auch wenn ein fetziger Oldie mich hierher geführt hat. Ich schreibe, weil ich glaube, dass es Zeit ist für Klartext & Tacheles. Nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sondern mit ausgestreckter Hand und offenem Herzen, die Seele auf der Zunge, wie man im Pott, meiner Heimat, sagt. Im Gespräch. In der Auseinandersetzung. In der Verantwortung.
Ich lade ein. Und ich lasse mich einladen. Zum Denken. Zum Diskutieren. Zum Widersprechen. Nur um des Himmels willen: Hört auf mit Gleichgültigkeit und Schweigen, die unfreiwillig einer gefährlichen Verschiebung unseres Gesellschaftsbildes Vorschub leisten. Das Leben findet in der Zukunft statt, nicht im Klammern an Ideologien und Technologien von gestern. Das wird sich ganz sicher nicht ändern, das war schon immer so. Dumme und Opportunisten können Entwicklungen bremsen, doch nicht aufhalten. Diese Erkenntnis ist eine der wenigen, die bestimmt ihre Gültigkeit behält.
Was meine Einladung zum Diskurs angeht: Jede*r, der will, weiß, wo er oder sie mich findet. Für alle anderen: Führt eure Gespräche. Öffnet Räume. Hört nicht auf zu fragen.
Denn wenn es irgendwann heißt: „Wir haben das alles kommen sehen.“ Dann will ich sagen können: Ich habe es benannt. Und ich habe gesprochen. Laut und vernehmlich. Meine Generation und ich haben unseren Eltern genau diese Frage gestellt. Sie verdient eine klare Antwort, bevor sie wieder jemand fragen muss und der statt Antworten ausweichendes „Umdenheißenbreidrumrumgerede“ erhält.
Ich habe diesen Text als öffentlichen Brief verfasst. Er darf gern geteilt, kommentiert und diskutiert werden – online oder offline. Wer mich einladen möchte, weiß, wo er mich findet.
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