Mal was ganz anderes. Oder doch nicht so anders?
Ich habe einen hochinteressanten Artikel (hier) gefunden, der einige Gedanken der letzten Jahre hat fokussieren helfen. Sind oder werden Computer intelligenter als Menschen? Müssen wir irgendwann befürchten, dass die Computer unsere Herren werden? Reicht es, immer intelligentere Algorithmen auf immer größere Datenhaufen zu werfen, um die Welt zu erkennen und zu beherrschen?
Ich hab mal leidenschaftlich gerne Schach gespielt und kann an Schachpuzzles nicht ohne Neugierde vorbeischauen. Deshalb hat mich die Abbildung links besonders auf den genannten Artikel getriggert. Angeblich kann ein Schachcomputer dieses Problem nicht lösen. Schachcomputer schätzen die Diagramstellung wegen des großen Materialvorteils als gewonnen für Schwarz ein. Das Schachprogramm Stockfish 8, das gemeinsam mit Komodo die meisten Ranglisten im Computerschach anführt, bewertet sie nach 5 Minuten Bedenkzeit mit – 28 (Ich hab es nicht probiert, glaube das einfach mal dem Autoren). Das erstaunt zunächst, gewinnen doch inzwischen selbst Schachweltmeister nicht mehr gegen geballte Rechenpower. Doch genau da beginnt der Geist zu denken. Warum eigentlich ist Rechenpower so entscheidend? Oder wann ist sie von nur geringer Bedeutung? Ist das Schachspiel kompliziert? Dann wäre es mit Wissen, Daten und Algorithmen zu beherrschen. Oder ist es komplex, voller Überraschungen, die das System unbeherrschbar machen.
Klar können beim Schach geniale Spieler voller Absicht oder Zufall bei ihrem Gegner überraschende Momente auslösen. Auch beim Schach wird geblufft. Ich vermute mal, dass Computer das nicht können. Aber mal ganz unabhängig davon wird auch nach dem Bluff ein Computer nüchtern alle, oder unter Zeitdruck möglichst viele der sich aus einer Stellung ergebenden Varianten durchrechnen, bewerten und dann den nächsten Zug machen. Da werden nur die Regeln abgearbeitet. Das können Computer besser als Menschen, deshalb gewinnen sie immer öfter selbst gegen Großmeister. In diesem Sinne ist Schach mehr kompliziert als komplex.
Die Stellung oben kann kaum möglich aus einer gespielten Partie stammen. Sie ist frei am Brett erfunden. Schwarz hat ein erdrückendes Materialübergewicht, bloß es nutzt ihm nichts. Er kann nur seine drei Läufer bewegen, die auf den schwarzen Feldern dem weißen König nichts anhaben können, dieser muss nur auf weißen Feldern bleiben. Kinderspiel. Ein Mensch erkennt mit einem Blick: der schwarze Materialvorteil ist nur symbolisch. Solange Weiß nicht einen der drei Bauern b3, c4 und c6 zieht ist Schwarz „gefesselt“. Die drei schwarzfeldrigen Läufer können alleine den weißen König nicht matt setzen. Der Schachcomputer versagt hier, weil die Stellung „unnatürlich“ ist und sich daher der regelhaften Bewertung entzieht.
Hier schlägt nun die Stunde des menschlichen Geistes. Big Data und Algorithmen sind und bleiben unperfekt. Sie können immer nur den rationalen Teil, einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen und bewerten. Die Wirklichkeit ist aber zu großen Teilen nicht rational. Jeder Versuch, die Welt mit Logik abzubilden wird jetzt und in Zukunft nicht möglich und schon gar nicht sinnvoll sein.
Wenn ich mir auf einer Webseite einen Artikel ansehe, dann kann das beobachtet und in Algorithmen abgebildet werden. Was aber nicht beobachtet werden kann sind Motive und Beweggründe. Das Bild einer bunten Blumenwiese löst bei einem Naturliebhaber oder einem Heuschnupfenallergiker völlig unterschiedliche Motive und Reaktionen aus. Um ein weiteres martialisches Beispiel zur Beschreibung heranzuziehen: Niemand könnte vorhersagen, unter welchen Bedingungen ich bereit wäre, mein Leben für ein anderes zu opfern. Ich glaube, ich wüsste es selber nicht. Doch nun kommt es: Ich weiß aber genau, dass derartige Situationen für mich vorstellbar sind, und ich sie sofort erkennen werde, wenn mir eine solche begegnet.
Algorithmen und Big Data bleiben daher bedeutungsvoll, wirksam aber nur in Verbindung mit dem menschlichen Geist, den sie unterstützen können. Ich muss damit leben, dass ich auch in Zukunft vielen kognitiven Irrtümern unterliegen und hoffentlich meist darüber lachen werde. Vermeiden kann ich sie nicht, aber mal unter uns ganz ehrlich: ich falle lieber auf meine eigenen kognitiven Irrtümer herein als auf die der Datensammler und Programmierer von Algorithmen.
Wie auch drüben bei Joe in den Kommentaren angemerkt, muss man eine wichtige Einschränkung machen:
Der Computer „versagt“ in dieser Stellung nur hinsichtlich seiner Einschätzung der Lage. Gibt man ihm die weißen Steine und lässt ihn die Situation ausspielen, hält auch ein im heutigen Massstab simpler Schachcomputer das Remis problemlos – weil er berechnen kann, dass fast alle weißen Bauernzüge sehr schnell zum Matt führen (mit wenigen Ausnahmen, bei denen schwarz mithelfen müsste um ein Desaster zu verhindern).
Danke für den Hinweis. Ehrlich gesagt: anderes hätte mich auch fast gewundert. Die daran anschließenden Gedanken bleiben trotzdem und widersprechen dem nicht.