Kompliziert oder komplex? Was denn nun?

 

Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Leute selbst in Schlüsselpositionen komplizierte Systeme von komplexen nicht unterscheiden können. Dabei ist dieser Unterschied fundamental für moderne Unternehmensführung. Die meisten Manager folgen dem anerzogenen Management-Reflex nach der besten und einzig richtigen Lösung zu suchen, auch dort wo „Tanz mit dem System“ angesagt wäre. Diese Herangehensweisen unterscheiden sich prinzipiell. Fast alle Antworten auf die Frage „kompliziert oder komplex?“ kreisen um die Vermutung eines Unterschieds im „Schwierigkeitsgrad“. Dabei sind Charakter und Beschaffenheit beider Erscheinungsformen von Systemen fundamental verschieden.

Das eine, kompliziert, drückt das Verhältnis einer Person zu einem System aus. Was den einen orientierungsunfähig vor einen undurchsichtigen Dschungel von Straßengewirr stellt, ist für den lokalen Chauffeur eines Tuk Tuk in einer asiatischen Metropole ein Heimspiel. Für den einen ist es kompliziert, der andere kennt sich damit aus. Komplexe Systeme hingegen sind völlig unabhängig vom Auge und dem Wissen des Betrachters, komplex beschreibt Eigenschaften und Beschaffenheit eines Systems. Die sind völlig unabhängig vom Betrachter.

Schauen wir uns die Unterschiede genauer an:

Kausalität: 

Komplizierte Systeme haben lineare Ursache-Wirkungszusammenhänge. Unabhängig von Raum und Zeit haben gleiche Ursachen wiederholbar immer gleiche Wirkungen. Sie sind identifizierbar und auf wissensmäßig erschließbare Zusammenhänge zurückzuführen.

Komplexe Systeme haben Muster, Anlagen, Neigungen. Ihre Wirkung hängt von vielfältigen Abhängigkeiten und Zusammenhängen ab, die nicht vollständig zu erschließen sind. Es gibt keinen bestimmenden oder beschreibbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung. In komplexen Systemen ist detaillierte Ursachenforschung Zeitverschwendung. Doch genau die wird in Projekten und zur Entscheidungsvorbereitung immer wieder gefordert.

Linearität:

Kompliziertheit folgt den Gesetzen der Physik: Das System ist skalierbar, großer Input erzeugt großen Output, das System verhält sich proportional.

Komplexe Systeme sind nicht skalierbar. Ein großes Budget zur Förderung von Irgendwas kann wirkungslos bleiben. In komplexen Zusammenhängen können kleinste Veränderungen alles auf den Kopf stellen. Sich was trauen und ausprobieren sind nützlicher als ausgefeiltes Programmdesign.

Reduzierbarkeit:

Komplizierte Systeme können in unabhängige Einzelteile zerlegt werden. Deren Funktionsweise und Beziehungen untereinander können dekonstruiert und beschrieben werden.

Die Teile komplexer Systeme sind multifunktional vernetzt. Sie interagieren auf vielfältigste nicht vollständig beschreibbare Weise miteinander. Ähnliche Verhaltensmuster können auf unterschiedlichste Weise ausgelöst werden und auf überraschende Weise zusammenwirken. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Oder eben weniger. Komplexe Systeme sind emergent.

Kontrollierbarkeit & Lösungsfähigkeit

Komplizierte Systeme und Interaktionen können kontrolliert und die ihnen zugrunde liegenden Problemstrukturen dauerhaft gelöst werden.

Komplexe Systeme sind nicht reversibel. Das System verändert sich mit jeder Interaktion. Es ist damit zu rechnen, dass das Zusammenwirken zahlreicher und nicht vollständig bekannter Wirkungsfaktoren immer unbeabsichtigte und unerwartete Konsequenzen mit sich führt. Komplexe Systeme sind hochgradig unsicher und voller Überraschungen.

Constraints / Engpassfaktoren:

Komplizierte Systeme sind reguliert, Grenzen und Enpässe des Systems sind so reglementiert, dass nur bestimmte Verhaltensmuster möglich sind. Komplizierte Systeme sind geschlossene Systeme.

Komplexe Systeme sind offene Systeme. Sie hängen zusammen mit anderen Systemen, sie sind nicht isolierbar. In komplexen Systemen ist Kontext alles (siehe auch hier)! Sie können nicht losgelöst von ihrem Kontext betrachtet werden. Introvertiertheit komplexer Systeme (Zum Beispiel eine Organisation) macht sie verletzlich.

Wissen:

Komplizierte Systeme sind wissensmäßig erschließbar, sie können modelliert und gestaltet werden.

Nur ein komplexes System selbst kann ein gültiges Modell seiner selbst sein. Seine Wirkungszusammenhänge sind durch Datenmengen, Wissen und Algorithmen nicht zu beschreiben, es kann nicht durch Einsatz von noch so viel Zeit und Ressourcen in komplizierte Einzelteile zerlegt werden.

Willst Du komplexe Systeme verstehen lernen, musst Du mit ihnen interagieren. So lernst Du das System und seine Verhaltensmuster besser kennen und verstehen. Du wirst es aber nie vollständig ergründen und verstehen können, Überraschungen bleiben allgegenwärtig. Komplexe Systeme haben kein Optimum, es gibt kein richtig oder falsch, keine klaren Ziele und keinen bekannten Weg dorthin.

Kreativität und Anpassungsfähigkeit:

Auf komplizierte Systeme können wir von außen einwirken. Auf diese Weise können sie auch verändert werden.

Komplexe Systeme beobachten sich selbst, sie sind lern- und anpassungsfähig, sie entwickeln sich im Dialog, in Interaktion mit seinen Teilen. Co-Evolution, soziale Dynamik, Phantasie und Kreativität können (auch auf subtile Art und Weise) konstruktive oder zerstörerische Wirkung entfalten.

Beschreibbarkeit

Alles können wir beschreiben, auch bisher nie Dagewesenes. Allerdings immer nur hinterher, denn vorher war es ja nicht da. Dazu lässt sich bisher Unbekanntes nur in Anekdoten erzählen, es geht nur in Narrativen (kommt aus dem Lateinischen, narrare = erzählen). Im Komplexen bekommen wor keine Beschreibung zustande, die etwas Zukünftiges nahelegen kann. Wenn man komplizierte Syteme beschreibt ist die Hoffnung nicht unbegründet, dass diese Beschreibung auf etwas Zukünftiges schließen lässt. Beschreiben lassen sich komplizierte und komplexe Systeme. Der feine Unterschied liegt darin, dass komplizierte STeme verlässliche Aussagen über die Zukunft zulassen. Komplexe Systeme erlauben zu beschreiben, was bisher passiert ist, nur vielleicht warum. Aber Schlüsse darüber, was es als nächstes tun wird sind daraus nicht abzuleiten.

 

Warum diese Unterscheidungen fundamental sind und Schlüsselcharakter für moderne Unternehmensführung haben? Ganz einfach: Herangehensweisen an komplizierte bzw. komplexe Systeme sind völlig verschieden. Manchmal muss man eben genau analysieren und dekonstruieren, manchmal muss man gut gerüstet mit Theorie und Erfahrung sich einfach mal was trauen und probieren. Wo die Herangehensweise nicht passt, kann es ganz schön schiefgehen.

 

Danke für Anregungen zu diesem Blog an Sonja Blignaut und Roberto Poli.

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[…] für komplexe bzw. komplizierte Systeme (siehe zum Beispiel hier und hier). Sobald Darstellungen wie diese im Sinne eines „entweder-oder“ genutzt werden, im […]

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[…] Verhaltensmuster ist angebracht in welchen Situationen. Dazu habe ich oft geschrieben, zuletzt hier. Kontext ist […]

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