Bist Du Kandinsky-Kenner? Einer Gruppe von Testpersonen werden abstrakte Gemälde gezeigt. Ein Teil der Bilder stammt angeblich von dem berühmten Maler Wassily Kandinsky, der Rest soll von Laien gemalt worden sein. Die Probanden sollen bewerten, welche Bilder ihnen am besten gefallen. Natürlich schneiden die angeblichen Werke von Kandinsky deutlich besser ab. Nicht nur in der Medizin kennen wir den Placebo-Effekt: positive Veränderungen des subjektiven Befindens und objektiv messbarer körperlichen Funktionen, die der symbolischen Bedeutung einer Behandlung zugeschrieben werden. Inzwischen sind auch Nocebo-Effekte nachgewiesen: Testpersonen zeigen messbar negative Reaktionen auf erwartete Nebenwirkungen einer symbolischen Behandlung. Das Kandinsky-Experiment gehört zur Gruppe der Marketingplacebos: teuer ist hochwertiger als billig. Marketingplacebos beeinflussen unsere Erwartungen, unsere Sinneswahrnehmung und unser Verhalten.
Gut, dass das auf andere zutrifft, nicht uns! Trainer, Personaler, Seminaranbieter und anderes aufgeklärte Volk betrifft diese Erkenntnis gottlob nicht. Oder doch? Darüber musste ich nachdenken, als ich mal wieder gefragt wurde, ob ich nicht ein „Seminar“ zu „irgendwas“ anbieten könnte, was gerade als Problem identifiziert worden war und dringender Lösung bedurfte. Dahinter steckt ein uralter Reflex auf der Suche nach einer gestalterischen Rolle der Personalarbeit im unternehmerischen Geschäftsfeld: die Qualifizierung der Mitarbeiter, die Personalentwicklung oder ganz früher die sogenannte betriebliche Weiterbildung als Upgrade zur Personalaktenverwaltung. Bitte nicht missverstehen: Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter der Ansicht, dass Personaler eine wichtige Rolle im Unternehmen spielen können und sollen. Doch bitte nicht auf der Ebene patriarchalisch fürsorglicher Bearbeitung scheinbarer Defizite auf der Individualebene. Es gab sie, die Zeit der Wissensdefizite, wo klassische Schul- und Hochschulbildung nicht das vermittelte, was an Organisations-, Kommunikations- und Führungswissen gebraucht wurde. Fehlendes Wissen ist heute nicht mehr unser drängendes Problem. Eher schon die Umsetzung unseres Wissens. Doch auch diese Sichtweise bleibt an der Oberfläche, denn sie setzt voraus, dass überhaupt Probleme mit Wissen gelöst werden können.
Das gilt nämlich nur für den Teil der Probleme, die bekannt sind, in gleicher Form wiederkehren und bereits erfolgreich gelöst worden sind. Das können vertrackte Probleme sein, für manche Lösungen braucht es wirklich Spezialisten, nicht jeder weiß alles. Doch die Natur der meisten Probleme in den Unternehmen heute ist, dass sie neu und in ihrer Konstellation einmalig sind. Ratgeberwissen und Rezepte helfen da wenig, da braucht es Erfahrung, theoretischen Hintergrund, ein tiefgreifendes Verständnis der Situation, das richtige Händchen eben, um mit denen, die dem Problem am nächsten sind eine Lösung zu finden. Die ist immer einmalig, nicht übertragbar, meistens weiß man nicht einmal selbst genau, was von dem vielen Gesprochenen und Probierten wie geholfen hat. Wir alle wissen, dass die scheinbare Wiederholung des neuen „Rezeptes“ bereits in der Nachbarabteilung oder in einem funktions- und baugleichen Werk derselben Unternehmensgruppe zu anderen Ergebnissen führt. Wissen hilft nicht bei Dynamik. Überraschungen finden ihren Meister nur unter Könnern. Siehe dazu auch hier.
Vor kurzem habe ich an einer Ausschreibung für eine „Schulungsmaßnahme“ (grässliches Wort!) für „Führungskräfte in der Produktion“ teilgenommen. Das Schulungskonzept war bereits von fleißigen Mitarbeitern des Produktionsbetriebes nach den Regeln gängiger Seminarkonzepte aus dem Internet erstellt worden. Wissen um Führung und Führungsmodelle sollte Inhalt der Schulung sein. Das Problem war aus Sicht der Unternehmensleitung sonnenklar: Wenn die in der Produktion doch wüssten, wie es richtig geht, verschwinden unsere Probleme. Wenn doch alle so schlau wären wie wir …. Es wurde nur noch ein Trainer gebraucht, der es wie vorgeplant durchexerziert. Statt einer Powerpointpräsentation bei dem Angebotsgespräch habe ich versucht, im Sinne einer Auftragsklärung mit Auftraggeber und potentiellen Teilnehmern ins Gespräch zu kommen. Leider waren die potentiellen Teilnehmer gar nicht anwesend. Und der Auftragsklärungsversuch wurde als mangelhafte Vorbereitung und unschlüssiges Gesamtkonzept weise belächelt. „Wir haben doch klar beschrieben, was wir brauchen.“ Den Auftrag bekommen hat ein Anbieter klassischer Standardseminare. Es ging bei der Entscheidung natürlich nicht um Geld.
Was mich interessierte war die Frage: Was genau sind die Hintergründe für den Auftrag? Was für betriebliche Probleme treten auf? Wer wirkt da zusammen? Warum sind es Führungsprobleme? Warum Führungsprobleme der Mitarbeiter in der Produktion? Wie sind Abläufe und Strukturen? Warum jetzt? Wie sehen die potentiellen Teilnehmer die Situation? Welche Erwartungen haben die? Haben ähnlich Veranstaltungen schon einmal stattgefunden? Welche Erfahrungen gibt es? Die Liste offener Fragen lässt sich fortsetzen, es ist nicht gelungen, die in den Mittelpunkt des Gespräches zu bringen. Man wisse schon, was man wolle. Da sind Fragen natürlich lästig. Und es kommt vor, dass man nicht unglücklich ist, einen Auftrag nicht zu erhalten. Zu gerne würde ich in einigen Monaten mal erleben, was diese Schulungen so bewirkt haben.
Die Erkenntnis, dass Symptome nicht das Problem sind, gehört für mich zu den Urweisheiten eines Coaches oder Beraters. Immer stellt sich im Verlauf eines Beratungsprozesses heraus, dass es ein Problem hinter dem Problem gibt. Alle Menschen mit einem Problem haben Beratungsbedarf, weil sie selbst nur eine eingeschränkte Sichtweise auf das Problem und ihre Rolle darin haben. Darauf weise ich immer wieder hin mit dem professionellen Versprechen, einen dauerhaften Dialog mit allen Beteiligten zu führen und einen Beratungsauftrag zu verstehen als sich einbringen in einen Lösungsprozess, an dem alle Beteiligten mitwirken müssen und nicht a priori feststeht, wessen Wissenslücken eigentlich Schuld an allen Miseren haben. Helden und Schuldige sind schlechte Blitzableiter für mangelndes Verständnis der Komplexität sozialer Systeme.
Die Moral von der Geschicht? Beratung hat mit der Entwicklung von Wertschöpfungsprozessen zu tun, nicht mit der „Korrektur“ von Defiziten bei Menschen. Der klassische Ansatz der Personalentwicklung und viele Konzepte betrieblicher Weiterbildung infantilisieren, sie werden den dynamischen Herausforderungen der Märkte nicht gerecht. Seminare und Schulungen lösen mit dem untauglichen Mittel des Wissenstransfers keine dynamischen Aufgabenstellungen. Seminare können – wenn gut gemacht – unterhaltsam und kurzweilig sein, sie geben den Beteiligten die Illusion des Handelns, doch sie lösen keine Probleme. Dazu braucht es die schon genannten Könner. Gute Beratung kann Könner, die es in jedem Unternehmen gibt, dabei wirksam unterstützen. Auch unter Beratern gibt es Könner, man erkennt sie allerdings nicht an den Happiness-Sheets, die am Ende eines Seminars verteilt werden. Eher schon an einer professionellen Auftragsklärung und ihrer offenen und demütigen Haltung gegenüber dem Problem, das es zu lösen gilt. Und daran, dass sie keine Rezepte verteilen, sondern die Ärmel hochkrempeln, ihre Fähigkeiten einbringen und mitmachen. Manchmal bewirkt ein offenes Gespräch mehr als eine „Schulung“. Auftragsklärung und Beratung gehen immer mehr ineinander über. Berater müssen deshalb über Wertschöpfungsmodelle nachdenken, die über ein Zeithonorar für ihre Anwesenheit bei „Schulungsmaßnahmen und Seminaren“ hinausgehen.
Ein Grund, weshalb man als Systemiker nicht an sogenannten Ausschreibungen teilnehmen sollte. Mal abgesehen von der Fragwürdigkeit der Ausschreibungslogik als solcher; meistens geht es um Managementkrücken, die schon als Krücken beschrieben sind. Wehe, du kommst daher und trittst die Krücke weg; die Auftraggeber sahen ihre (formalhierachisch begründete) Macht in Gefahr – und nehmen sie gewiss in Gebrauch: „Sie nicht.“ Wenn das Weiterbildungsersuchen nicht „von unten“ kommt, also von den Teams selbst (ja, es gibt solche Firmen), kannst du es gleich knicken. Es sei denn, du spielst den Spielfähigen und kommst von hinten durch die Brust ins Auge. Das aber bedarf… Weiterlesen »