Wer hat als persönlichen Beirat so etwas wie einen Rat der Weisen? Ich nutze diese Coaching-Technik seit Jahren auch für mich selbst und bin gut beraten von einer Tafelrunde, wie in der Sage um König Artus. Bei Lebensfragen oder Problemen, die mich beschäftigen, nutze ich diesen Expertenkreis mit Fragen nach Rat und Ideen. Es gibt einen festen Kreis von Mitgliedern in der Runde, ständige Mitglieder. Und es gibt Experten, die als Spezialisten für begrenzte und spezielle Themen hinzugezogen werden. Mitglieder der Runde sind lebende reale Menschen, es können auch Personen der Zeitgeschichte sein. Darunter sind allerdings auch fiktive Charaktere wie Romanfiguren, Comic- oder Cartoonfiguren, mit denen mich etwas verbindet, die meine besondere Wertschätzung oder Identifikation genießen. Winnie the Pooh (siehe zum Beispiel hier, oder hier) gehört dazu. Ein zweites ständiges Mitglied von Martins Tafelrunde aus der Fiction-Gruppe ist Hägar der Schreckliche. Die beiden bieten für mich eine faszinierende Balance zwischen Humor, Tiefgang und verschiedenen Perspektiven auf das Leben. Winnie the Pooh steht für Gelassenheit, innere Weisheit und die Kunst, die Welt durch einfache, aber tiefgründige Fragen zu entschlüsseln. Er ist der Denker und der sanfte Philosoph. Hägar bringt bodenständigen Humor, Pragmatismus und eine liebevolle Chaotik mit. Er steht für die Herausforderungen des Alltags und Kunst, über sich selbst zu lachen. Als Duett spiegeln sie für mich Kopf und Herz, Reflexion und Handlung, Philosophie und Alltag. Sie sind mir immer wieder gute Ratgeber und Inspiratoren.
Auslöser für meine unfertigen Gedanken ist die Frage (aufgeworfen durch einen Artikel in der ZEIT), ob und in wie weit diejenigen, die sich in unserer Gesellschaft als fortschrittlich progressiv bezeichnen nicht von immer mehr Wählerinnen und Wählern als autoritär angesehen werden; ein Vorwurf, den sie selbst umgekehrt ihren Gegnern machen. Als Elefant im Raum steht die Aussage, dass zum Aufstieg des Autoritären auf allen Seiten des politischen Spektrums immer zwei gehören: die, die sich für die Erleuchteten halten und die, die den Widerspruch nicht wagen. Sorgen um unsere Gesellschaft müssen wir uns weniger wegen überzeugender Argumente der Rechtsextremisten machen, sondern mehr, weil die Generation der Baby-Boomer (zu der auch ich gehöre) als Gatekeeper der Demokratie versagt hat. Ohne etwas schlecht reden zu wollen: Es sind zu viele offene Probleme, die wir entweder nicht ernst genug nehmen, schönreden, oder mit offensichtlich untauglichen Mitteln halbherzig und fortschrittsfeindlich angehen. Wer wollte bestreiten, dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht demografie- oder enkeltauglich sind? Wie wollen wir mit analogen Prozessen in eine digitale Zukunft kommen? Wir beschwören unsere Stärken von gestern, es geschieht zu wenig, die Potentiale für morgen anzupacken. Die Liste lässt sich fortsetzen. Hat die linke französische Regisseurin Ariane Mnouchkine recht, wenn sie öffentlich beklagt: „Wir haben das Volk im Stich gelassen, wir wollten nicht auf die Ängste und Befürchtungen hören. Wenn die Menschen sagten, was sie sahen, sagte man ihnen, dass sie sich irrten, dass sie nicht sahen, was sie sahen. Es sei nur ein trügerisches Gefühl, sagte man ihnen. Dann, als sie darauf beharrten, sagte man ihnen, dass sie Idioten seien, und dann, als sie noch mehr darauf beharrten, nannte man sie Mistkerle.“ Ersetzt man „Mistkerle“ durch „Faschisten“ wird klar, was ich meine. Etikettierungen aller Art lösen das Problem nicht. Trotzdem habe ich, ich gebe es zu, Angst um unsere Demokratie. Das ist Grund genug, sich Gedanken zu machen, auch selbstkritische.
Was ich selbstzerstörerisch finde: Wir haben es völlig verlernt, Lösungen für offenkundige Probleme zu finden. Der Reflex richtet sich auf die Zerstörung der Argumente der Anderen, nicht auf die Findung einer Idee. Wer sich mit Kommunikation auskennt, erkennt dies unschwer. Ideologie frisst Hirn, Empörung und Emotionalisierung vernebeln, Verzerrungen und Falschaussagen beherrschen Diskussionen, Angriffe, Themensprünge, Retortenantworten auf nicht gestellte Fragen …. . Die einen wollen Risiken minimieren, andere wollen Chancen generieren und nutzen, dahinter verbergen sich ernste Fragen, Themen, die Ideen provozieren sollen. Doch genau diese bleiben dem verborgen, der andere diskreditiert, für nicht koalitionsfähig hält und herumtrickst, nur um zu gewinnen. Das löst kein Problem, es schafft nur ein viel größeres, nämlich das, was mich zu Sorgen um unsere Gesellschaft führt. Wir spielen ein Loose-Loose-Spiel, merkt ihr das nicht?
Ich habe auch keine perfekte Lösung in der Tasche, aber selbstkritisch nachdenken ist ja schon mal mehr als nichts. Was würden wohl meine beiden Helden der Tafelrunde dazu sagen? Winnie würde darauf hinweisen, dass wir statt um Honig zu streiten uns mal mit Nachdruck um die Pflege des Bienenstocks zu kümmern haben. Schuldzuschreibungen sind eine Sackgasse, zuhören und zusammenarbeiten ist die Devise.
Hägar würde ergänzen, dass Appelle nichts bringen außer, eigene Ohnmachtsgefühle zu mildern und öffentlich als „vernünftig“ dazustehen.Vielleicht brauchen wir einfach mehr Leute, die die Ärmel hochkrempeln, statt die Köpfe zu schütteln. Und einen ordentlichen Schluck Met dazu.
Ich verstehe immer besser, warum die beiden in meiner Tafelrunde sind.
Lieber Martin, ich sehe noch einen weiteren Aspekt, das Politikerbashing, und da nehme ich mich nicht aus. Auch wenn man jemanden nicht persönlich kennt wird angenommen (und ausgesprochen) dass jemand ja noch nichts geleistet hat, keine Abschlüsse vorzuweisen oder gar ein abgeschlossenes Studium und keine Ahnung hat von dem was er gerade tut. Man unterstellt reflexhaft, dass der oder diejenige nur aus Machtbeflissenheit und Geltungsbedürfnis seine Position bekleidet, ungeachtet der Möglichkeit, dass da jemand eventuell das Leben in diesem Land, in dieser Welt ein bisschen besser und gerechter machen möchte. Und ja, es gibt diese machtgeilen Typen, aber man schert… Weiterlesen »