Die Frage nach meinem Alter beantworte ich gerne mit dem Metaphernrätsel „68er Spätlese“. Damit meine ich nicht mein Geburtsjahr, ich denke an einen Zeitraum besonderer Prägung. 1968 war ich noch „schülerbewegt“, wenige Jahre später dann „studentenbewegt“. Spätlese deswegen, weil auf dem Scheitelpunkt der mit 68 verbundenen Ereignisse ich noch etwas zu jung war, um wirklich mittendrin gewesen zu sein. Politisch links waren wir damals, geburtenstarke Jahrgänge der Nachkriegszeit, die nach der schwungvollen Dynamik der ersten Nachkriegsjahrzehnte eine strukturelle Neuorientierung suchten. Wir forderten Erklärungen über verantwortliche Strukturen und Personen für die Verbrechen des Faschismus, wir wollten eine neue Bildungspolitik, mehr soziale Gerechtigkeit. Die Einkommensverteilung fanden wir ungerecht, in der Oligopolisierung der Wirtschaft, ihrem wachsenden Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft sahen wir eine Gefahr für die junge Demokratie. Rebellisch waren wir, kritisch gegenüber dem wirtschaftsliberalen Kapitalismus, wir haben den Mund aufgemacht, sind einer offenen (friedlichen !!!) Konfrontation mit den etablierten Strukturen nicht aus dem Wege gegangen. „Konstruktive Irritierer“ eben, damals schon.
Keine Sorge, das wird keine Einleitung zu einem verklärten Blick auf gute alte Zeiten, kein moralisierender Blog darüber, wie toll wir waren. Doch wenn ich auf das „heute“ schaue, kommen doch so einige Gedanken.
Viel geschehen ist seit 68. Das meiste ist vor allem anders geworden. Selbstverständlich bin ich nicht unzufrieden, vieles ist besser, als wir es uns in unserer Sturm- und Drangzeit vorgestellt haben. Doch manchmal denke ich, uns würde etwas von dem 68er Geist heute gut tun.
Die Einkommensverteilung in Deutschland und der Welt ist heute ungerechter als sie es damals war. Daran musste ich denken, als ich im Internet die Abbildung dieses neuzeitlichen Monopoly fand. Die Mittelschicht, einstmals Kennzeichen einer gesunden Gesellschaftsstruktur in Deutschland, verschwimmt in einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft in relativ immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer. Die Kluft zwischen reich und arm wächst. Wir waren in vielen Dingen mal Spitze, heute sind wir schon zufrieden, wenn wir im Vergleich zu anderen relativ gut dastehen. Viele Trends zeigen nach unten, wir sind aber glücklich, dass es uns eigentlich gar nicht so schlecht geht. Verantwortungslose Manager beklagen, dass einzelne Mitarbeiter immer wieder Fehler machen (so gestern in der Tagesschau Deutsche Bank Vorstände, die vor Gericht stehen und in den letzten drei Jahren 3 Mrd. € an Strafgeldern zu verantworten haben). Es sind natürlich immer die anderen Schuld, ein überkommenes System dahinter will kein Verantwortlicher zugeben. Wir versuchen uns vor allem in Effizienzinnovation unserer Wirtschaft. Niemand glaubt allerdings wirklich, dass wir in dieser Disziplin mit China, Indien, Korea und anderen Staaten mithalten können. Wir sind nicht mehr das Land der Basisinnovation, die nachhaltiges Wachstumspotential nach sich zieht. Schlechte Innovationswirtschaft wird sich irgendwann in schwächerer Produktionswirtschaft niederschlagen. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik orientieren sich an kosmetischen Verbesserungen für das neu entstehende Prekariat statt an echter Zukunftsorientierung. Wie gut sind unsere politischen Eliten? Wie gut sind Führungskultur und Führungsqualität in Politik und Wirtschaft, die Erfindungsbereitschaft als Basiswert etablieren und soziale Rahmenbedingungen für technische Innovationsräume schaffen?
So viele kritische Fragen. Wir tun gut daran, uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen. Ich spüre, dass wir heute mehr von unseren Erfolgen der letzten Jahrzehnte zehren, als dass wir gute Voraussetzungen für die nächsten schaffen. Dazu brauchen wir wieder einen Aufbruch im Denken und Handeln, den Mut neue Wege zu probieren. Steuern nach Zahlen ist wie fahren mit Blick in den Rückspiegel. Das wird nicht reichen. Wir sind mitten drin in einem Zeiten- und Denkwandel. Wird Zeit, dass wir uns das eingestehen und handeln.
Wir brauchen echte Innovationen und den Mut zu Veränderungen. Da kommt der konstruktiv irritierende Geist der 68er Spätlese wieder zum Vorschein. Nicht, weil wir alles gut und richtig gemacht haben. Aber wir haben es getan. Jetzt wäre wieder eine gute Gelegenheit, das evolutionäre Potential des Augenblicks durch Probieren und Lernen zu nutzen.
Inspiriert zu diesen Gedanken haben mich dieses Zitat von Peter Drucker und ein Vortrag von Thomas Sattelberger über Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft, den ich hier ausdrücklich zur Nachlese empfehle.
Es gibt dazu sicher noch viel mehr zu sagen. Aber mehr ist für den Augenblick nicht drin.
[…] in politischem und gesellschaftlichem Diskurs, auch in Protesten und Demonstrationen (schau mal hier), gelernt als durch das Studium der Algebra oder anderer Inhalte. Womit ich nichts gegen Algebra […]