Angst als moralische Instanz

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Wir kennen alle das kindliche Fang-Spiel: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? „Niemand“, so lautet die einstimmige Antwort. „Und wenn er kommt?“ „Dann fliehen wir“, so die Antwort im Spiel. Hier gehen Spiel und das wirkliche Leben auseinander, Flucht ist oft keine gute Idee. Ihre Nebenwirkung: Könnte schlimmer werden.

Angst hat Zukunft! So hat der Übervater der Systemtheorie Niklas Luhmann schon vor fast 40 Jahren vorhergesagt. Präziser meinte er die Angstkommunikation. Wo wir die moderne Gesellschaft nicht mehr verstehen, dort entsteht zunehmend Angst. Fehlende Orientierung in einer unübersichtlichen Welt lässt Angst zum funktionalen Äquivalent für Sinngebung werden. Bekannte Gesellschaftliches Systeme wie die Wirtschaft, das Recht oder die Wissenschaft geben keine umfassenden Erklärungsmuster für unsere Welt, sie bewegen sich selbstreferentiell, auf sich selbst bezogen. Die Wirtschaft kennt ausschließlich Geld als Regulativ, das Recht die Erfüllung von Normen, die Wissenschaft kategorisiert methodisch und theoretisch in wahr und unwahr, ihre unendlichen Möglichkeitsräume erscheinen irrational, weil sie in ihrer Vielfalt für uns nicht handelbar sind. Die Politik als übergreifendes Gesamtsystem hat seine Rolle als übergeordnetes Steuerungssystem des Ganzen verloren. Sie hat sich zu einem Subsystem entwickelt, in dem es nur um Macht geht, um Staatsämter oder Opposition.

Das Besondere an der Angst ist: Angst existiert, weil man sie sich vorstellt, man kann sie sich einfach einbilden. Sie ist immun gegen Argumente der reinen Vernunft, niemand kann sie widerlegen. Ihre Erscheinung ist paradox: jedes Bemühen Angst abzubauen verstärkt ihre Wirkung. Risiken, denen wir unfreiwillig ausgesetzt sind halten wir wegen ihrer Fremdheit und Unbekanntheit für größer als die Abenteuer, auf die wir uns wissentlich einlassen. Angst ist ein bewährtes Hausmittel, um Mangel an eigenen Ideen oder Handlungsmöglichkeiten, eigene Ohnmacht zu überdecken. Angst weiß alles, sie ist unwiderlegbar, sie ist das neue Meta-Mega-System einer undurchschaubaren Gesellschaft. Politik und Medien setzen sie daher gerne in Szene, aber natürlich nicht nur die. Bereits aufmüpfige Kinder bekommen von Eltern die Funktion der Angst lebensnah vermittelt: „Wenn Du nicht dies oder das, dann bringe ich Dich zur Polizei!“ Habe ich vor wenigen Tagen unfreiwillig als Zeuge erleben müssen.

Angst bewegt die Realität. Wer befürchtet, dass andere Mehl oder Klopapier „hamstern“ fühlt sich gezwungen, dies selbst zu tun. Angst schafft sich so ihre eigene Rechtfertigung, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Angst polarisiert, für die einen ist sie hysterisch, andere finden so manches Risiko unbegründet verharmlost. Die Kommunikation über beides verläuft selbstinduziert mit Aufschaukelungseffekt. Jeder Versuch der Angst abzuhelfen, lässt sie zunehmen.

Wo Worte und Erkenntnis fehlen gedeihen Moral (siehe hier) und Angst. Angst wird zum Supersystem einer unübersichtlichen Gesellschaft, das nicht reguliert, nicht widerlegt werden kann. Angst widersteht jeder Kritik, sie benötigt keine Rechtfertigung. Sie wird gezielt eingesetzt, um darauf irgendein Süppchen zu kochen. Ein jeder wird seinem moralischen System entsprechende Beispiele anführen können. Selbstverständlich gilt das wie so oft nur für die anderen, man selbst ist natürlich davon unberührt.

Ich habe es mir abgewöhnt, Lösungen und Rezepte anzubieten. Es gibt sie nicht. Am Beginn eines langen Weges steht erst mal das Verstehen unseres Status. Vertrauen kann eine Richtung andeuten, dir wir einschlagen mögen. Vertrauen ist ein soziales Mittel der Krisenbewältigung, ein Schmiermittel zum Umgang mit Unsicherheit. Das gehamsterte Toilettenpapier eignet sich jedenfalls nicht zum Abwischen von Ängsten. Es geht nicht um die banale Frage des „Für und Wider“ von Vertrauen sondern konkret darum: wo braucht man Kontrolle, damit Vertrauen entstehen kann? Wo braucht es Vertrauen, damit Kontrollen nicht zum Selbstzweck, zur Gängelung werden? Isolation ist die Feindin von Vertrauen, das Verharren in den eigenen sozialen Räumen ist es auch. Das macht es in privatem Kontext einfacher als im öffentlichen Raum, selbst dort ist es schon schwer genug.

 

 

 

 

 

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