„Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis; es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung.“ Nein, es ist nicht die Abschlusskonferenz aus „Welt Live 2024“, es sind die ersten Zeilen aus Charles Dickens „Geschichte aus zwei Städten“, Zufallsfund bei Brandeins (Erste Zeilen zum Verlieben, wunderbar! Leseempfehlung!). Erste Gedanken gelten mehr dem hier & jetzt als der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo diese Zeilen geschrieben wurden. Inkompetente Egomanen versuchen die Welt zu beherrschen, Werte wie Anstand, Wahrhaftigkeit und Kooperation scheinen einem toxischen Mix aus Wut, Manipulation und Selbstsucht zu weichen. Die Macht der Autokraten beruht auf Spaltung, Lügen und dem Zerstören von Verbindungen. Die Demokratie, einst als Hüterin von Freiheit und Gerechtigkeit, scheint an sich selbst zu scheitern. Materialismus schlägt Idealismus, Pragmatismus schlägt Werte.
Doch war die Welt jemals anders? Die Geschichte zeigt, dass in jeder Epoche Licht und Finsternis nebeneinander existieren. Was sie unterscheidet, ist, ob wir das Licht kultivieren oder die Dunkelheit einfach geschehen lassen. Die Philosophen der Aufklärung, die Bürgerrechtsbewegung, selbst die grundlegende Idee der Demokratie – sie alle sind aus Zeiten der Krise hervorgegangen. Die Aufklärung hätte ohne die finsteren Zeiten des Absolutismus nicht entstehen können. Die Demokratie hätte sich ohne die Kämpfe gegen Kolonialismus und Diktatur nicht entwickelt. Auch heute könnten wir diese Umwege als Chance sehen – eine Einladung, alte Systeme zu überdenken und neue Wege zu gestalten. In Momenten der Schockstarre werden neue Definitionen von Stärke entwickelt. Simpler Optimismus allerdings ist im Angesicht der gegenwärtigen Krisenvielfalt naiv, Blickverweigerung dumm. Positiv denken bei drohender Gefahr ist gefährlich. Hoffnung ist allerdings angebracht, jede Geste nährt sie. Sie ist Ausdruck intellektueller Durchdringung der realen Gefahren vereint mit einem Zukunftsbild und der Suche nach persönlichen Herausforderungen. Pessimismus des Verstandes gepaart mit dem Optimismus des Willens. Fern von optimistischer Blindheit befördert das Erkennen und Entwerfen von Möglichkeiten Hoffnung auch in schwierigen Zeiten.
„Alles ist vorläufig: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich,“ meint der amerikanische Dramatiker Edward Albee. Schockstarre angesichts der allgegenwärtigen Drohkulissen muss nicht Schwäche sein. Sie ist ein evolutionäres Signal, das uns auffordert, innezuhalten, zu analysieren und nach neuen Wegen zu suchen. Wege aus der Lähmung sind allerdings selten gerade. Geschichte ist voller Umwege, oft zeigt sich erst im Nachhinein, dass der vermeintliche Rückschritt Grundlage für einen neue Orientierungen eröffnet. Kommt halt vor, dass der Umweg das Ziel ist. Mag sein, dass das auch heute gilt und Hoffnung nicht darin besteht, die Augen vor der Dunkelheit zu verschließen, sondern das Licht zu suchen, auch wenn es nur ein schwacher Schein ist.
Wir müssen allerdings verstehen, dass diese Welt nicht mehr nach unseren lieb gewonnenen alten Gesetzmäßigkeiten tickt. Egal ob wir es bedauern oder nicht: Wahlen und Menschen werden nicht über edle Werte und bessere Argumente gewonnen. Die dunkle Seite, in den USA und bei uns in Deutschland, gewinnt Wahlen über Emotionen, die sie bevorzugt mit und in sozialen Medien erzeugt. Die herrschenden Medien- und Überzeugungsarchitekturen der Vergangenheit sind so tot, dass viele es noch gar nicht bemerkt haben. Anhänger der Demokratie kämpfen auf ihren alten Bühnen und Plattformen um Werte und Traditionen, während auf der anderen Seite inkompetente Demagogen nicht trotz, sondern wegen ihrer Lügen, Straftaten und Entgleisungen von denen gewählt werden, gegen deren Interessen sie agieren. Das sollten wir zuerst mal erkennen, um uns nicht an die aktuellen Verhältnisse gewöhnen zu müssen.
Je emotionaler eine Information für uns ist, desto stärker speichern wir sie ab, desto länger denken wir darüber nach. Fakten bringen niemanden dazu, sein Verhalten zu ändern. Der Grad der Komplexität schließt es aus, rational handeln zu können. Nicht einmal die bekannten Fakten können wir abwägen, ganz zu schweigen von dem Unbekannten, das Unsicherheit schafft. Unsicherheit macht Angst, deren eskalierte Übersteigerung als Hass auf die Welt kommt. Da helfen keine Argumente.
Was helfen könnte sind Begegnungen, die dieses Prinzip für sich nutzen. Alte Interpretationen von Stärke, geprägt von Macht, Kontrolle und Konkurrenz, sind überholt. Sie führen uns direkt in den Abgrund, befeuert durch Machtfantasien egomanischer Eliten. Stärke kann anders gedacht werden: als Fähigkeit zur Kooperation, als Verbindung, als Empathie. Kooperation ist das wahre Erfolgsrezept der Menschheit. Sie hat uns überleben lassen, sie ermöglicht Fortschritt, Innovation und Gerechtigkeit. Eine neue Definition von Stärke bedeutet, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit über den Kampf zu stellen, Verantwortung über Egoismus und das Gemeinwohl über Einzelinteressen. Politische Verantwortung zu übernehmen, bedeutet unterschiedliche Meinungen, Werte und Gefühlslagen zu erkennen und dann Formate für einen konstruktiven Austausch anzubieten. Vor allem Entscheidungsträger müssen radikal ehrlich mit ihren eigenen Emotionen sein, denn hinter jeder Entscheidung stehen Werte, Einstellungen und Gefühle. Wir müssen diese Zusammenhänge erst einmal ehrfürchtig verstehen, dazu unsere emotionale Bildung einsetzen und fördern. Es braucht Mut, Zuversicht und vor allem Kooperation, um aus unserer Schockstarre aufzuwachen. Denn, wie Charles Dickens seine ersten Sätze (siehe oben) fortsetzt: „Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns.“