Auf den Unterschied kommt es an. Hört sich banal an, ist aber wichtig und erkenntnistheoretisch fundamental: egal ob beobachtet, wahrgenommen, kommuniziert: es muss immer unterschieden werden zwischen irgendetwas und etwas anderem. So gesehen ist Unterscheiden identitätsbildend. Identität entsteht durch Abgrenzung. Messerscharf betrachtet ist Identität letztlich paradox: Es ist, was es ist nur deswegen, weil es nicht das ist, was es nicht ist. Identität ist die Einheit einer Unterscheidung, in der sie selbst als Einheit wieder vorkommt. Der unterscheidende Beobachter hat jedoch einen blinden Fleck, er unterliegt dem Paradox der Beobachtung: Du kannst nie sicher sein, nicht doch etwas übersehen zu haben. Dazu kannst Du niemals den Anspruch auf vollständige Richtigkeit deiner Beobachtung reklamieren. Personen und Systeme beobachten ihr Umwelt jeweils auf ihre spezifische Weise. Andere Personen oder Systeme betrachten dasselbe mit völlig anderen Beobachtungsergebnissen. Beobachtung ist immer eine systeminterne Operation.
Äääääh, ja, und was soll das? Was mach ich jetzt damit? Ist mir viel zu abstrakt, das verwirrt nur.
Erst mal ist unterscheiden ein wichtiges Mittel der Begriffsbildung. Ohne Unterscheidung und Bezeichnung läuft nichts, ja nicht einmal nichts. Aber jetzt kommt es: Wir haben gelernt, Unterscheidung mit einer Bewertung zu verknüpfen. Teil unseres Weltbildes ist der Reflex, in einem Atemzug zu unterscheiden UND zu bewerten, was wir mehr gut oder mehr schlecht finden. Das nennen wir „schwarz-weiß-Denken“, es ist mechanistisch, so ist es charakteristisch prägend für unsere westlich industrialisierte Welt. In asiatischen Kulturen gilt im Gegensatz dazu eher die Maxime „lerne unterscheiden ohne zu trennen“. Die hat viel gemeinsam mit einer systemtheoretischen Betrachtung.
Unterscheiden ohne zu trennen birgt durchaus Erkenntnisse, die beim schwarz-weiß-Blick entgehen. So die „HX-Verwirrung„, bei der Menschen gegensätzlicher Auffassung statt eines klärenden Dialogs „Schattenkämpfe“ betreiben. Angenommen der eine steht für Einheit, der andere für Vielfalt. Schatten der Einheit sind Uniformität, Monokultur, Gleichmacherei, Konformität ……; Schatten der Vielfalt sind Beliebigkeit, Profillosigkeit, Zusammenhanglosigkeit. Ein jeder sieht den Schatten des Anderen als Problem und bekämpft diesen. Anhänger der Einheitsthese beklagen die Beliebigkeit der Vielfaltsbefürworter. Umgekehrt beklagen diese die Uniformität der Einheitsfanatiker. Dies führt zu keiner wirklichen Lösung, Trennendes steht vor Verbindendem. Umgekehrt kann nach dem “Gesetz der Dialektik” eine Lösung gefunden werden, wenn eine Harmonie oder Integration auf einer höheren Ebene erfolgt. Dazu müssen beide erkennen, dass sie den falschen Schatten bekämpfen: Das Problem ist nicht der Schatten des anderen, sondern der eigene! Uniformität ist Einheit ohne jede Vielfalt und Beliebigkeit ist Vielfalt ohne jede Einheit. Der Feind ist nicht der Schatten des vermeintlichen Gegners, sondern der eigene. Zu dieser Einsicht kann man nur durch Zuhören kommen. Und es geht nicht um Egalisierung oder irgendeine „goldene Mitte“! Wir müssen unterscheiden und verstehen lernen, ohne in das trennende Gut-Böse-Schema zu verfallen.
Jedes Verhalten hat seine Übertreibung und seinen positiven Kern. Der Schatten der Sparsamkeit ist der Geiz, der Schatten der Großzügigkeit ist die Verschwendung. Wir schätzen Sparsamkeit und Großzügigkeit, Geiz und Verschwendung sind verpönt. Übrigens ein nettes Einpersonenunterhaltungsspiel (geht auch mit zwei oder mehr Personen) bei langweiligen Zug- oder Autofahrten: Zu beliebig ausgedachtem Verhalten oder einem jüngst erlebten „nervenden“ Erlebnis den jeweiligen Gegenpol und die HX-Verwirrung zu konstruieren. Beispiel: Der Kerl ist sowas von halsstarrig. Wäre er etwas flexibler würde ich seine Standhaftigkeit schätzen. Flexibilität ist sehr nützlich. Man wird aber zum Waschlappen, wenn man immer nur flexibel ist. (Zur Verdeutlichung: Der Eigenschatten der Standhaftigkeit ist die Halsstarrigkeit, der Eigenschatten der Flexibilität ist der „Washlappen“. Der Gebrauch umgangssprachlicher Begriffe erleichtert das Finden ungemein und verhilft zu entspannten Gesichtszügen). Probier es mal, diese kleine Übung hilft, eigene und fremde Sichtweisen besser zu verstehen und richtige „Schattengegner“ zu identifizieren statt gegen Windmühlen zu kämpfen.
Nicht zufällig denke ich gerade an die Polarisierung in unserer Gesellschaft. Nicht zum ersten Mal schreibe ich hier über die Untugend der Polarisierung, die Unfähigkeit zu ambiger Betrachtung der Welt, zuletzt hier. Nicht jede Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit angesichts einer Pandemie unterhöhlt unsere Grundrechte. Ebensowenig ist die Verweigerung von Schutzregeln nicht gelebte Freiheit sondern schlicht Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gesellschaft. Krisen zeigen die Schwächen einer Gesellschaft. Im Moment sehen wir auf der Hauptbühne das Versagen zentraler Steuerung gegenüber der Notwendigkeit eines differenzierten, von lokalen Bedingungen abhängigen verantwortungsbewussten Vorgehens, das getragen von begründeten Experimenten erkenntnisfördernd allen zugute kommt.