Kommt ganz drauf an!

Wenn Porträt-Bilder Lebenswege beschreiben könnten …..
Meine Eltern, Großeltern und andere Mischpoke.

Solcher Art Fragen wirft das Leben auf. Meine Mutter, am Häufigsten mit den bohrenden Fragen des kleinen und heranwachsenden Martin konfrontiert, hatte eine eine einfache Faustformel als Antwort, die mich gleichermaßen ruhig stellte und zu tieferen Fragen provozierte: „Kommt ganz drauf an“ sagte sie. Ja, worauf kommt es denn nun an? Das blieb auch nach Rückfragen nebulös bis uneinsichtig. Es hat ein paar Jahrzehnte gedauert, das wirklich, wirklich zu verstehen.

Die Fragen sind andere geworden, die Antwort ist oft die nämliche geblieben: „Kommt ganz drauf an“. Neuhochdeutsch übersetzt man das heute mit: Context matters. Auf der Schulbank humanistischer Bildung hat mich zwischendurch die  Sentenz meines Lateinlehrers irritiert: „Quod licet iovi non licet bovi“. Frei übersetzt: Was der liebe Gott darf, das ist noch lange nicht jedem Rindvieh erlaubt. Das ist mir etwas zu abgehoben autoritär, unzweifelhaft sahen meine Mitschüler wie ich das Rindvieh im Allgemeinen als eine Anspielung auf die Schüler und ein jeder im Speziellen auf sich. Aber unvergessen ist dieser Satz bis heute geblieben, und eine gewisse entfernte Bedeutungsübereinstimmung zu der Heuristik meiner Mutter gibt es schon  ……. :))

Ich komme gerade jetzt auf den Merksatz meiner Eltern und Großeltern, weil ich in dieser Woche bei einem Kunden bin, der ein spezielles Führungsmodell in seinem Unternehmen etablieren will. Eines, das sehr spezielle Erwartungen an Führungskräfte und Mitarbeiter richtet. Diese – so nett, gut gemeint und wünschenswert sie im Einzelnen sein mögen – sind bloß nicht nach Anleitung und Lehrbuch umsetzbar. Dazu sind sie nicht immer und für jeden passend, geeignet und stimmig. Persönlichkeitsmodelle beispielsweise sind ganz unterhaltsam, wecken menschliche Neugierde. Ein jeder spürt einen Drang danach, mehr über sich zu erfahren, seine blinden Flecke zu erhellen. So spannend das im Moment der Erkenntnis sein mag, wissen wir doch genau: Verhalten ist selbstverständlich nicht unabhängig von „Persönlichkeit“. Doch bestimmt nicht der Kontext viel stärker unser Verhalten als irgendein Bild von der Person? Das Beispiel mit der Oper und der Nordkurve des Lieblingsvereins leuchtet sofort ein. Doch auch im eigenen Unternehmen spürt beispielsweise jeder, dass Unterhaltungen sich verändern, sobald der Chef die Runde betritt. Die gleichen Persönlichkeiten, eine kommt hinzu = neuer Kontext = neues Verhalten!

Gute Erziehungsratgeber für Eltern erklären: Wichtig ist, dass Heranwachsende möglichst viele und unterschiedliche Verhaltensmodelle kennenlernen. Dann entwickeln sie Optionen, das erweitert ihr Verhaltensrepertoire. Die Moral kommt von ganz alleine dazu: Was gehört sich? Was nicht? Und die Erkenntnis: Moral ist nicht an jedem Ort in jedem Kontext die gleiche. Kommt mal wieder ganz drauf an. Auf die Optionen kommt es an, das Beobachten und Verstehen von Unterschieden. Die machen im Kontext unterschiedlicher Situationen den Unterschied und geben Raum für passende Reaktionen. Mehr und besseer als die Suche nach dem Idealbild einer erwünschten Verhaltensorientierung. Das gilt nicht nur für Heranwachsende und Kinder. In unserer komplexen Welt ist es klug, über Optionen zu verfügen. Die sind immer überlegen gegenüber einer Strategie, die sich nach egal welchen einstudierten Verhaltensmustern ausrichtet. Das Leben hält sich nicht an Muster. Kompetenzen, auch Führungskompetenzen, sind weder Eigenschaften der Persönlichkeit noch Wissen. Sie entstehen durch das Leben, durch angewandte Praxis. Werkzeuge sind unabhängig vom Problem, sie erweitern in den Händen guter Leute das Ideenspektrum.

Es kommt eben immer ganz drauf an! Auch die in Empathie und Partizipation bestgeschulte Führungskraft muss mal aus der Haut fahren dürfen, ganz ohne schlechtes Gewissen und Abzüge in der Haltungsnote beim 360 Grad Feedback.

Ich finde es völlig ok, wenn junge Führungskräfte diese ganzen Modelle kennen und einordnen lernen. Sie erweitern das Optionsspektrum und haben das Potential, mächtigen Denkwerkzeuge zu werden, sofern sie nicht als allgemein gültige Rezepte, Grundsätze oder Leitbilder daherkommen. Gute Entscheidungen unter komplexen Bedingungen brauchen möglichst viele und unterschiedliche Möglichkeiten. Die geben Persönlichkeiten den Raum, die Wahrscheinlichkeit guter Entscheidungen im jeweiligen Kontext spürbar zu verbessern. So verstanden ist „kommt ganz drauf an“ oder „context matters“ eben nicht die Tür zur Beliebigkeit. Es ist die hohe Schule dynamikrobusten Denkens in einer dynamischen Welt.

Ich bin jedenfalls stolz darauf, schon früh tiefe systemtheoretische Weisheit quasi mit der Muttermilch aufgenommen zu haben. So fällt der Apfel nicht weit vom Birnbaum! Aber diese Weisheit ist eine Extrageschichte wert.

 

Die Rubrik „Merksätze“ habe ich begonnen, um einfache Dinge des Lebens auf den Punkt zu bringen. Denn für eine gute Suppe, Projekte, ein Unternehmen, eine Revolution und das Leben braucht es Merksätze, die jeder, wirklich jeder versteht. Für den Start dieser Rubrik und seine Hintergründe siehe hier.

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