Ich gebe es ungern zu – mein Leben hat jetzt einen Motor. Und zwar dort, wo früher meine Beine zuständig waren.
Früher, in der Stadt, gehörte ich zu den Puristen: Stahlrahmen, Ledersattel, kein Schnickschnack. Ein Fahrrad war eine Haltung – und ein bisschen auch ein Urteil. Wer E-Bike fuhr, hatte sich selbst aufgegeben, so meine stille Überzeugung. Muskel statt Motor! Schweiß statt Steckdose! Radfahrer aller Länder, wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten! Dazu spottete ich über den unklaren Unterschied zwischen E-Bike und Motorrad, was ich erst recht nicht unter meinem Gesäß haben wollte.
Tja. Und heute? Heute lädt mein Akku in der Garage. Und ich freue mich wie Bolle, wenn die Anzeige grün blinkt.
Seit ich auf dem Land lebe, weiß ich: Haltung ist schön. Rückenwind ist besser.
Denn hier sind die Wege lang, das Gelände offen, der Wind meist gegen dich. Landwind kommt von vorn. Immer! Und das nächste Geschäft, in dem man Dinkelmehl oder frische Beeren bekommt, ist 7,4 Kilometer entfernt – mit Höhenmetern (Hügel sind zwar weniger hoch, dafür um so länger!) und Seitenböen. Ich habe lange gekämpft. Mit mir, mit dem Wind, mit der Vorstellung, dass Haltung automatisch irgendwas mit Charakter zu tun hat. Vielleicht wollte ich mir beweisen, dass ich doch nicht weich geworden bin. Doch irgendwann merkte ich: Ich fuhr kaum noch los. Nicht, weil ich nicht wollte. Sondern weil ich mich schon beim Gedanken an Gegenwind, zwei Dörfer Umweg und den letzten Kilometer bergauf innerlich nach dem Sofa sehnte.
Also gut: Ich kapituliere. Und bestelle ein E-Bike. Natürlich nicht online. Sondern beim Fahrradhändler im Nachbardorf. Ein älterer Herr, Schrauber aus Leidenschaft, Stahlrahmen im Blut. Einer, der lieber mit dem 14er Maulschlüssel spricht als mit einem Display. Wir mochten ihn sofort – und haben innerlich doch herzlich gelacht, als er uns das E-Bike erklärt. Zumindest den Teil, den er mag: die Gangschaltung, das Licht, den Ständer. Für alles Elektrische kommt seine Frau aus dem Hinterzimmer. Sie ist sein Komplementärstück: pragmatisch, wach, und erstaunlich schnell im Umgang mit der App.
Ich glaube, ich habe das Rad gekauft, weil ich in diesem Moment verstanden habe: Ich darf beides sein. Der Alte mit der Luftpumpe – und die Frau mit dem Ladegerät. Mein innerer Widerspruch steht da plötzlich vor mir. Und reicht mir die Bedienungsanleitung. Was soll ich sagen? Es fährt. Mich. Sanft. Und leise. Kein Knattern, kein Zerren. Nur surren und gleiten. Ich bin schneller, entspannter – und ich fahre tatsächlich öfter. In der Stadt hätte ich das als Verrat gesehen. Hier nenne ich es: angemessene Anpassung.
Natürlich gibt es einen Haken. Man wird plötzlich von anderen Radfahrern mit so einem wissenden Blick gegrüßt. So ein „Wir wissen, was gut ist“-Blick. Fast wie beim SUV-Fahrer an der Ampel – nur in moralisch. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mein E-Bike in den Schatten stelle. Muss ja nicht gleich jedem auffallen.
Doch dann denke ich an die Tage mit 40 km Gegenwind, an die Erledigungen auf drei Dörfer verteilt, an das Gefühl, nicht völlig erschöpft, sondern lebendig anzukommen – und ich lächle. Vielleicht ist das Erwachsensein: Wenn man die Freiheit gewinnt, eigene Überzeugungen zu überdenken. Und sich dabei nicht schlechter, sondern besser fühlt. E-Bikes sind für mich inzwischen sowas wie die künstliche Intelligenz unter den Zweirädern: Sie bemerken, dass sie fahren und helfen dabei mit. Solche Fähigkeit ist ist im öffentlichen Raum keineswegs selbstverständlich.
Mein altes Fahrrad steht übrigens noch da. Es sieht ein bisschen beleidigt aus. Aber wir verstehen uns. Es darf mich jetzt mit Gästen im Sattel durch Feld und Flur begleiten. Das hält alle fit!
Wer sich für die Abenteuer eines Stadtmenschen interessiert, der zur Landpomeranze metamorphosiert, findet weiteres Anschauungsmaterial hier und hier. Demnächst mehr in diesem Theater.
Lieber Martin,
ich liebe es, wie Du das, was manch einer kaum zu fühlen imstande ist in Worte bringst. In einer weiteren Betrachtungsweise bin ich ebenfalls ganz bei Dir, das Alter ändert vieles, auch manche Dogmata, und das ist auch sehr gut so.
Bitte mehr Deiner philosophischen Betrachtungen – liebe Grüße und Glück Auf!
Schöner Text! Erinnert mich etwas an die eigenen Anfänge mit dem E-Bike. Wobei mein Radhändler der alten Schule dann doch zumindest etwas aufgeschlossener gegenüber modernen Entwicklungen ist. Inzwischen fahre ich das eine, kann aber das andere nicht lassen. Seit ich etwas mehr Zeit zur Verfügung habe, erledige ich – bei Wind und Wetter – fast alles mit dem Fahrrad (samt Anhänger). Mal mit, mal ohne gespeicherten Rückenwind. Immer der jeweiligen Situation angemessen. Und manch‘ Mountainbiketour, die ich einst abgebrochen habe, weil die Anstiege mir zu lang und steil erschienen, hab‘ ich inzwischen „gepackt“. Erst mit dem E-Bike, dann mit reiner… Weiterlesen »