Nie wussten wir so viel über unser Nicht-Wissen

Ich mag diese Karikatur von Shannon Wheeler, veröffentlicht im „New Yorker“. Normalerweise schauen wir uns apokalyptische Filme an. Heute erleben wir sie live, sind Akteure statt Betrachter, wir sind auf dem Platz statt auf der Tribüne. Die Tage in häuslicher Isolation erschaffen eine merkwürdige Dualität zwischen dem Bedürfnis nach anregender Unterhaltung und sozialer Nähe und der verzweifelten Suche nach Stille und Ruhe.

Jürgen Habermas hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: : So viel Wissen über unser Nicht-Wissen gab es noch nie!

Krise ist, wenn die Selbstverständlichkeiten von früher fehlen. Das System in dem wir leben muss auf eine neue, bisher unbekannte Weise reagieren. Für diese neue Situation gibt es keinen Werkzeugkasten. Wir werden uns gerade der Selbstverständlichkeiten von gestern bewusst, weil wir sie plötzlich vermissen. Das kann Basis für Erkenntnisprozesse sein. Plötzlich gehen Dinge, die vorher nicht gingen. Krise erzeugt einen Schutzraum für Neues Arbeiten. Neuer Kontext schafft neues Verhalten.

Überraschungen sind zwar nichts Neues. Doch jetzt passieren Überraschungen, die in keines der uns bekannten Schemata passen. In der Krise steigt die Komplexität. Wir handeln ins Ungewisse. Es ist eine Illusion zu glauben, „auf Sicht“ fahren zu können. Wir sind gezwungen ohne relevantes Wissen über unseren augenblicklichen Kontext zu handeln. So viel wir auch wissen, was wir jetzt brauchen, das wissen wir nicht! Die traditionelle Aufgabe einer Führungskraft, nämlich Anweisungen zu erteilen und deren Einhaltung zu kontrollieren, stößt deshalb an ihre Grenzen.

Krisen schaffen Veränderungen. Klassische Steuerung versagt. Covid19 ist nicht die Wurzel des Problems, das Virus deckt nur schonungslos Schwachstellen auf. Unsere Gesellschaft und die meisten Unternehmen werden von einer zentralen Instanz gesteuert. Erfolg hängt maßgeblich davon ab, wie gut oder passend die Entscheidungen dieser Instanz sind oder wie passend das Regelwerk aufgebaut wurde, das die Organisation steuert.

Von einer Meta-Perspektive betrachtet ist die aktuelle Situation als Schutzraum für „Neues Arbeiten“. Normalität ist ausgesetzt. Wir arbeiten unter anderen Vorzeichen. Krisen schaffen Räume für Neues. Plötzlich dürfen wir Dinge, die sonst tabu waren. Corona kann helfen, neue, bisher unbekannte oder für unmöglich gehaltene Arbeitsweisen zu legitimieren. Krisen sind Erneuerungsbeschleuniger!

Wir müssen uns darüber klar sein, dass – so schmerzlich das im Einzelfall sein wird – es eine Selektion geben wird. Krisen führen immer dazu, dass die schwächsten Markteilnehmer verschwinden. Das sind in den meisten Fällen die, die mit dynamischen Veränderungen nicht umgehen können. Ob Sie als Unternehmer und Entscheider in diesem Flächenbrand zu Grunde gehen ist zum großen Teil Ihre eigene Entscheidung. Das ist zugegeben schwierig zu verstehen, denn es ist natürlich keine bewusste Entscheidung.

Es wird zur bewussten Entscheidung, wenn man erkennt, dass wir immer Optionen haben. Oft bewegen wir uns in einem abgesteckten Rahmen und trauen uns nicht, darüber hinaus Alternativen in Betracht zu ziehen. Oft war das auch gar nicht nötig, da die eigene Komfortzone behaglich Platz geboten hat. Für Unternehmer ist die naheliegendste Option, veraltete Teile des bisherigen Geschäftsmodells zu überdenken und zu erneuern. Krisen als Chancen ansehen, allen Widrigkeiten zum Trotz die Situation zum Weiterkommen nutzen, das zeichnet unternehmerisch denkende Menschen aus.

Wissen wird immer individueller und feingliedriger. Das ist die Konsequenz der Arbeitsteilung und führt zu einem Wachstum an Spezialisten, die sich untereinander verstehen, doch kein anderer versteht sie mehr und sie sich selbst untereinander auch nicht. Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, Zusammenhänge herzustellen. Menschen, die mehr Freiräume wollen, müssen lernen, das verfügbare Wissen zu teilen. Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass in der Wissensökonomie nur eine Lösung und eine Wahrheit existiert. Wir müssen lernen, so miteinander zu kommunizieren, dass wir einander verstehen und müssen akzeptieren, dass es auch andere Wahrheiten und andere Realitäten gibt, als die in der eigenen Blase, in der wir uns bewegen.

Moderne Unternehmensführung funktioniert nach dem Prinzip Ansehen, nicht mit formaler Macht. Wer in Gegenwart hoher Komplexität auf seinen Machtanspruch pocht, riskiert sein Ansehen. Wer eingesteht, nicht schlauer zu sein als seine Kollegen, kann Ansehen gewinnen. Kann! Doch wenn es so einfach wäre, hätte jeder dieses Rezept und würde es können. Ansehen kann niemand herstellen. Es ist ein soziales Phänomen, das man nur beobachten, nicht aber machen kann. Und es ist ganz unabhängig von den Streifen am Hemd, man handelt es sich höchstens ein.

Was können wir heute tun? Dazu ein Paar Gedanken, die ich wichtig finde:

  1. Wo Wissen verfügbar ist: teilen. Geteiltes Wissen ist doppeltes Wissen!
  2. Mitarbeiter & Kollegen müssen nicht beschützt werden. Wir alle sind mündig, Infantilisierung lässt Glaubwürdigkeit und Beziehungen erodieren.
  3. Optimismus ist angebracht, im Sinne von ich glaube an mich und meine Fähigkeiten. Natürlich dürfen wir nichts beschönigen, Dinge müssen beim Namen genannt werden. Eine Garantie für „alles wird gut oder besser“ gibt es nicht. Scheitern bleibt möglich!

Allerdings adressieren diese Punkte den Führungsstil. Stilfragen sind nicht bedeutungslos, sie bleiben jedoch in ihrer Wirksamkeit weit hinter der Arbeit an den Spielregeln des Systems. Also mehr am System arbeiten als zu versuchen, an den Menschen herumzuändern. Menschen verhalten sich in veränderten Kontexten anders, ohne dass wir sie zu missionieren versuchen.

Jeder, der schon mal „Krisenmanager“ war, kennt den seltsamen „Rückschritt“ in die Normalität nach dem Ende einer Krise. Dieses befremdliche Gefühl, eine Höchstleistungsumgebung mit ihren vielfältigen Möglichkeiten nicht mehr vorzufinden, sobald ihr Anlass verflogen ist. Dann bleiben oft nur Erinnerungen an heldenhafte Glanztaten, zu denen wir in der Lage waren. Bloß verstehen wir nicht, warum wir sie nicht wiederbeleben können.

Eine wichtige Vorbereitung für die Zeit danach ist: Sich stets die Frage stellen, welche strukturellen Kontextvariablen werden im Moment außer Kraft gesetzt? Das bringt auf Ideen, was künftig anders gemacht werden kann.

Zu häufig sehe ich einen Mangel an kognitiver, politischer und experimenteller Vielfalt im Angesicht einer existentiellen Krise, die unsere Fähigkeiten für gute Entscheidungen limitieren. Wir können großartig analysieren, es liegt nur in der Natur der Sache, dass dies immer erst im Nachhinein möglich ist. Die Selbstverständlichkeiten von gestern waren einst mutige Experimente. So wird das bei unserem Rückblick in Jahren und Jahrzehnten erneut sein.

Siehe zu diesem Beitrag auch Martins Gedankenskizzen : Krisen sind Evolutionsbeschleuniger!

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[…] Mehr dazu siehe auch hier. […]

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[…] verstärkt. Also nichts Neues, für Krisensituationen jedenfalls (darüber hab ich schon mal, siehe hier). Wir befinden uns vor einem Portal zwischen einer alten, uns in großen Teilen bekannten Welt und […]

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