Rumeiern


Rumeiern, dieses Wort geht mir in diesen Tagen nicht aus dem Kopf. Rumeiern ist, wenn man sich nicht festlegen will. Kommt ja viel zu oft vor, dass wir Kollegen, Chefs, oder die Regierung beim rumeiern beobachten. Zum Verstehen, was dieses Wort eigentlich meint ist wie so oft „unterscheiden“ ein nützliches Vorgehen. Wovon muss man „rumeiern“ unterscheiden? Von einer „klaren Linie“?

Im Zusammenhang mit unserer täglichen Pandemie hab ich immer wieder an „rumeiern“ gedacht. Da gab es zu viel Widersprüchliches, Unsinniges und völlig Unverhältnismäßiges. Nein, bloß nicht missverstehen. Seit Corona hab ich allem abgeschworen, was sich nach „Querdenken“ anhört. Ich bin überzeugt, dass die Pandemie eine ernste Sache ist, halte mich aus überzeugt unwissender Vorsicht an die Regeln, schränke vernunftgetrieben physische Begegnungen ein. Ich bin stolz darauf, dass wir in einer Gemeinschaftsaktion im Frühjahr die Zahl der Infektionen gedrückt haben, doch aktuell fürchte ich, dass wir aktuell mit einer exponentiell wachsenden Zahl von Neuinfektionen in einen grausigen Winter mit eiskalter Stimmung in der Gesellschaft gehen werden. Realitätsverweigerer haben dazu beigetragen, leichtsinnig große Summen Geldes zu verbrennen sowie Leib und Leben anderer zu gefährden. Dies nur zur Klarstellung. Eigentlich geht es hier um was anderes.

Fangen wir mal mit der klaren Linie an. Die kann es in einem unsicheren oder ungewissen Kontext nicht geben.Wir erleben täglich Unsicherheit, Unübersichtlichkeit, Unschärfe. Die gute alte stabile und eindeutige Welt, sie ist nicht mehr. Schon lange nicht, nicht erst seit Corona. Doch unser tägliches Handeln folgt Denkmustern der Vergangenheit. Da werden klare Strategien gefordert, obwohl eigentlich das Meiste unbekannt ist. Bessere Konzepte, effizientere Stellschrauben werden nachgefragt. Je unsicherer wir uns fühlen, je mehr Beherrschbarkeit schwindet, desto mehr beschwören wir technokratisch sozialisiert kausale Logik und klare Regeln.  Regeln führen jedoch in komplexen Situationen zu erheblicher Verunsicherung. Wir sehen, wie Sinnhaftigkeit, nachvollziehbare Konsequenz, Widerspruchsfreiheit und Verhältnismäßigkeit verloren gehen, gesellschaftlicher Konsens unterminiert wird.

Die klare Linie ist also nicht ultima Ratio. Bleibt nur rumeiern? Kann man unsicher sein, hin- und hergerissen, ohne dass es wie Schlingerkurs aussieht?

Unsicherheit, Ungewissheit und Konflikte zwischen widerstreitenden Polen sind der Normalfall. Wo alles klar ist, muss nichts entscheiden werden. Das Leben ist wie die Pandemie oder die Unternehmensstrategie ein Experiment. Unverständlich, weshalb Manager, Politik und Bevölkerung sich mit dieser Tatsache so schwer anfreunden können. Management in Wirtschaft und Politik sie sich als Planungsinstanz. Wer experimentiert handelt unprofessionell, der geht unkalkulierbare Risiken ein. Das Leben ist ein Labor, wie in der Wissenschaft sind wir angewiesen auf Hypothesen und Vermutungen, um uns darin zurecht zu finden. Dies anerkennend und zum Gegenstand von echtem Diskurs gemacht öffnet neue Erkenntnishorizonte. Es braucht nur das Eingeständnis: Das Leben ist ungewiss. Jede andere Botschaft ist geschwindelt und fördert die Erosion sozialer Akzeptanz.“Fahren auf Sicht“ propagieren und gleichzeitig mit dem Scheinwerfer im Nebel herumleuchten, das verblendet.

Es gibt ihn also, den dritten Weg: Lernen aus professionellem Experimentieren begleitet von Transparenz und Mut zu begründbaren Risiken, um eine zusammenfassende Beschreibung zu versuchen. Doch es muss etwas hinzukommen. Zusammen leben und arbeiten braucht Fixpunkte, zumindest auf überschaubare Zeit. So etwas wie einen harten Pol. Am Besten nur einen, aber höchstens ganz wenige. Je härter dieser Pol bestimmt ist, um so mehr Freiraum für individuelles Handeln können wir offen lassen. Er muss bekannt sein, gut begründet und verstanden. Jede Zusatzerklärung, Ausnahme, Sonderregeln und Einschränkung verwässert das Prinzip. Das Absichern aller Eventualitäten zerstört Klarheit und Wirkung. Es braucht Konsequenz. Wo immer Verstöße auftreten, müssen sie konsequent geahndet werden. Das weiß eigentlich jeder, sei es aus eigener Kindheit oder aus dem Erfahrungslernen mit den eigenen Kindern: Besser wenig Regeln mit klarer Konsequenz als ein Gewirr von Anweisungen und Forderungen, die sich keiner merken kann, die sich widersprechen, deren Nicht-Einhaltung mal toleriert, mal sanktioniert wird. Unverbindliche Regelwerke sind Weichmacher, sie schaffen Desorientierung, führen zu Paralyse durch Beliebigkeit.

In einem alten Handbuch zur Organisationsentwicklung habe ich den Begriff der „strukturellen Oszillation“ gefunden. Davon ist die Rede, wenn man zwischen zwei Polen hin- und hergerissen ist. Wer abnehmen will und gleichzeitig weltlichen Genüssen nicht abgeneigt, der sollte einem von beiden eine klare Priorität geben, um nicht Jojo mit seinem Gewicht zu spielen. Hin und her führt unweigerlich dazu, frustriert zwischen den beiden Polen zu scheitern. Als bildliche Metapher für solche spannungsgeladenen Ziel- oder Systemkonflikte eignet sich das Bild zweier Gummibänder, die jedes an einem der gegenüberliegenden Pole befestigt sind. Das andere Ende beider Gummis ist mit uns verbunden. Jeder Versuch, sich dem einen oder anderen Pol zu nähern erhöht die Spannung gegenüber dem anderen. So bewegt sich unser System auf der Suche nach einem neuen Gleichgewichtszustand zwischen den Polen hin und her. Wir kennen zahlreiche solche Konflikte, sie führen zu Spannungen, häufigen Wechseln zwischen den Wunschzuständen, es sieht aus wie eine kreiselnde Ellipse um zwei gedachte Mittelpunkte. Rumeiern, könnte man auch sagen. Systeme wollen in ihrem Gleichgewichtszustand verharren, wer sich bewegen will muss aus dem strukturellen Konflikt heraus. Wo ein klares Primat das Handeln leitet wird aus einem strukturellen Konflikt eine Spannung, ein Dialog, nützlich wie ein harter Pol.

Klare Regeln und Vorgaben sind innerhalb bekannter Risiken gute Navigationsinstrumente. Bei Unsicherheit taugen sie nur mit großen Einschränkungen, immerhin können Erfahrungen nützliche Orientierungshilfen geben. Bei weitgehender Ungewissheit sind wenige klare Prinzipien & Pole gefragt, zwischen denen viel Freiraum für Erkenntnisse liegen kann. Freiheit braucht Struktur, um nicht beliebig zu werden. Natürlich müssen erzwungene Pole (wie zum Beispiel nach einem Lockdown) nach Lage der Dinge ersetzt werden durch zukunftsorientierte und visionäre Pole. Denn wir wollen eine Zukunft vorausschauend gestalten, so wie wir sie uns vorstellen.

Und was ist nun mit dem Rumeiern? Ganz einfach: Wer Risiko, Unsicherheit und Ungewissheit nicht unterscheidet oder für den jeweils relevanten dieser Zustände unpassende Navigationsinstrumente einsetzt, der eiert rum.

 

 

 

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Ursula Storost
Ursula Storost
3 Jahre zuvor

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