Wir haben es vergeigt!

Foto: Vicky Sim @vicky49 auf https://unsplash.com/photos/jh800dm6zRA

 

Ganz ehrlich, ich bin fassungslos. Nein, nicht wegen des Scheiterns. So schlimm das ist, insbesondere für unmittelbar Betroffene. Scheitern gehört in komplexen Umfeldern zur Normalität. Damit müssen wir rechnen, es lässt sich nicht vermeiden. Ich habe in diesem Blog viel darüber geschrieben. Was mich wirklich aufregt ist, wie wir gescheitert sind. Wir sind nicht nur gescheitert, wir haben es richtig vergeigt.

Fangen wir damit doch gleich an. Scheitern würde heißen, sich demütig vor der Situation zu verneigen und zu sagen: Leute, wir haben uns geirrt, wir haben das unterschätzt. Ich meine natürlich die Pandemie. Die führt uns täglich vor Augen, wie ahnungslos wir wirklich sind, was das Virus im Speziellen und der Umgang mit Komplexität, Unsicherheit oder gar Ungewissheit wirklich bedeuten. Am Anfang jeder Erkenntnis steht „verstehen“. Wenn etwas nicht verstanden ist, sollte man das eingestehen. Eingeständnisse erweitern den Erkenntnishorizont. Wenn etwas schief geht, sollte es wenigstens nützlich gewesen sein. Der Unterschied zwischen Fehler und Irrtum liegt darin, dass aus Letzterem gelernt werden kann. Natürlich nur, wenn man drüber redet. Fehler dagegen sind dumm, Fehler ist, wenn man es eigentlich hätte wissen können. Heute wissen wir: Wir haben die Situation die letzten Monate unterschätzt. Jetzt geht es um die ehrliche und konstruktive Frage: Wie gehen wir damit um? Was lernen wir daraus?

Was beobachten wir stattdessen? Ministerpräsidenten, Minister, Parteivorsitzende, und Parteivorsitzaspiranten, kleinkarierte Lobbyisten, Wissenschaftler, selbsternannte Experten bei krampfhaften Versuchen ihre Fehlpositionierungen der letzten Wochen in die Gegenwart zu retten, um sie ohne das Gesicht zu verlieren mit irgendeinem gedanklichen Salto mit dem jetzt Beschlossenen in Einklang zu bringen. Ein jeder erklärt, was mit ihm nicht zu machen ist und wo noch ein Sonderrecht angebracht wäre. Die Medien geben dem Geschehen eine Bühne, auf der Planungssicherheit bei völliger Ahnungslosigkeit gefordert wird, eine Langfriststrategie für nach dem 10. Januar. Kaum wird auf der Vorderbühne etwas beschlossen, wird es auf der Hinterbühne populistisch in Frage gestellt. So wie das läuft, darf es nicht bleiben, ein jeder findet so sein Thema, für jeden ist etwas dabei. Ist ja wie Weihnachten, schöne Bescherung.

Dazu eine breite Öffentlichkeit, die bei aller Berechtigung einer Diskussion über die Angemessenheit des einen oder anderen immer mehr über Themen redet, von denen sie immer weniger versteht. Einst waren wir 80 Millionen Bundestrainer, jetzt sind wir 80 Millionen Virologen. Egal ob es um Bettenkapazitäten geht, Impfstoffentwicklung, PCR Zuverlässigkeit, Grippe oder Covid, den Schutz vulnerabler Gruppen, egal was: mir fehlen inzwischen Verständnis und Geduld den ganzen Stuss anzuhören, der durch Unwissen verbreitet wird. Jeder darf denken, was er will, dafür kämpfe ich sogar. Aber eine sich gegen Null bewegende gesellschaftliche Lernkurve und eine medial unterstützte Ignorantenkultur kosten Geld und Zukunft, sie führen uns geradeaus in eine Tragödie. Wäre schön, wenn dieses Land sich auf Offensichtliches verständigen könnte: Wir haben uns in unserer bisherigen Einschätzung geirrt. Genau wissen wir nicht, wie das mit der Verbreitung läuft. Wir haben wenig Erkenntnisse, ob Schulbesuche gefährlicher sind als der Stammtisch in der Eckkneipe oder der Besuch eines Einzelhandelsgeschäftes. Wir haben keine Idee, wie wir Schulen und Kinderbetreuung garantieren können, außer „Lüften“ ist uns dazu wenig eingefallen. Wir haben die Kontrolle über die Situation verloren. Das ist Teil unseres Versagens, unserer kollektiven Denkverweigerung. Statt der ablenkenden täglichen Ziehung der Corona-Zahl wäre eine Alternative: Genau wissen wir nicht was los ist, aber es ist sehr ernst und gefährlich. Wir reden über Elend, Leben und Tod. Das sollte niemand vergessen.

Natürlich dürfen wir nicht schicksalshaft abwarten, was in den nächsten Wochen geschieht. Offene Fragen gibt es reichlich, das Große und Ganze gehört leidenschaftlich debattiert, niveauvoll abgewogen und politisch angemessen entschieden. Man kann, was einige Länder tun, mit rigorosen Maßnahmen die Pandemie einzugrenzen versuchen. Man kann mit Information und Aufklärung, gepaart mit wenigen grundsätzlichen Regeln auf Eigenverantwortung setzen. Oder man kann mit einem unehrlichen opportunistischen „rein-raus-Kurs“ versuchen, irgendwo einen Mittelweg zu finden. Das wären mal ehrliche und nützliche Strategiedebatten als Alternative zu der blühenden und hemmungslosen Ignorantenkultur, die das Land der Dichter und Denker befallen hat.

Strategie wäre: Fakten auf den Tisch, dazu zählt auch das Bekenntnis zu Unwissen und Halbwissen. Dazu ein paar wenige klare und zu kontrollierende Prinzipien (möglicherweise Abstand, Maske, Hygiene), die dann aber nicht mehr zu Tode debattiert werden, damit meine ich nicht nur Verschwörungstheoretiker. Wer gegen Tempo-Limit ist, muss sich auch daran halten. Dazu kommt etwas sehr wichtiges: Je weniger über ein unbekanntes System bekannt ist, desto mehr müssen wir parallel und gezielt durch fundierte und gezielte Versuchsanordnungen über das System lernen. Unsere föderalen Strukturen können dabei statt hinderlich zu sein sogar nützlich werden. Wenn statt „jeder macht, was er will“ sich alle einem allgemeinen Erkenntnisinteresse unterwerfen und abgestimmt je nach Kontext probieren und testen, um für alle verwertbare Informationen über die Pandemie zu erhalten. So lernen alle und gewinnen Erkenntnisse über Unbekanntes. Einleuchtend, dass dabei mehr herauskommt als alles auf eine Karte zu setzen oder selbstherrlich und nach eigenem Gusto zu agieren.

Wichtig: nicht zu viele Dinge gleichzeitig probieren, um nicht den Überblick zu verlieren. Meine Faustformel: 5-7 parallele Versuche. Die müssen transparent sein, genau wie ihre eher kurzfristig ausgelegten Kriterien, die eine eher gute von einer eher schlechten Idee unterscheiden. Ja, das ist nicht nachgemessen exakt, liegt aber in der Natur der Sache. Unsicherheit ist eben nicht messbar, wir müssen mit ihr leben anstatt sie zu beklagen oder fahrlässig zu vereinfachen.. Bekanntes bloß nicht immer wieder zu Tode diskutieren, ausser es gibt gute Gründe für Skepsis. Das Meiste, was im Moment durch die öffentliche Diskussion schwurbelt ist ausgemachter und widerlegter Unsinn. Wer heute nicht weiß, wo er steht, der sollte keine Prognosen abgeben! Weil wir es vergeigt haben, müssen wir jetzt mit Nachdruck als Allererstes von den monatlich ca. 15.000 Todesfällen und Kosten in zweistelliger Milliardengröße runter. Parallel müssen wir Strategien debattieren, wie oben skizziert. Mehr können und sollten wir im Moment nicht diskutieren. Spekulationen machen unglaubwürdig und unterminieren die Glaubwürdigkeit politischer Institutionen. Wir müssen uns von dem Glauben verabschieden, eine Pandemie kontrollieren zu können. Handeln unter unsicheren Bedingungen ist das Paradigma unserer Zeit.

Abschließend noch eines: Ich werfe hier niemandem etwas vor. Politiker, Wissenschaftler, Redakteure und alle anderen sind weder Helden noch Idioten. Sie verhalten sich alle im Rahmen dessen, was die Umstände ihnen gestatten. Wir sollten mehr auf eben diese Umstände schauen, als Personen zu bashen. Jeder, wirklich jeder kann zur Veränderung dieser Umstände beitragen. Wie genau, das muss jeder selbst herausfinden. Am Besten im intelligenten Diskurs und im praktischen Handeln. Für naiven Optimismus besteht kein Anlass, der wäre irrational und banal. Hoffnung besteht allerdings schon, die ist Ergebnis von Reflexion und kritisch rationalem Denken. Scheitern ist immer möglich, Hoffnung kann tragisch enden. Doch sie ist gleichzeitig eine dauerhafte Revolution gegen Selbstzufriedenheit und Verzweiflung.

Wo Menschen zusammenkommen, muss man mit Wundern rechnen. Es gibt Anlass zur Hoffnung, für Optimismus allerdings weniger.

 

 

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[…] Der schärfste Hund unter unseren Kabarettisten, der sehr geschätzte Georg Schramm, hat ein altes Zitat des Papstes Gregor des Großen aus dem 6. Jahrhundert ausgegraben: Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ Wisst Ihr, was der Ex-Papst mit Georg Schramm gemein hat? Recht haben sie! Daher mein zweiter Post in ähnlicher Angelegenheit in kurzer Zeit. […]

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